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Größenwahn

Größenwahn

Titel: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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der krankhaften Vorstellung litt, er werfe sich in seiner Nervenzerrüttung in unwillkürlichem Wahnsinn vor einen heranrasenden Courirzug. Nun schwebte ihm wiederum der Traumwahn vor, er setze sich, wie dies Kinder so oft thun, aufs Fensterbrett, schaue vier Stockwerk tief herunter, verliere das Gleichgewicht und stürze hinab.
    Es liegt etwas allgemein Menschliches, etwas Weltwahres in solchen Nerven-Hallucinationen. Deutlich prägt sich darin die Angst vor jähem Unglück aus, das verzweiflungsvolle Bewußtsein von der ewigen Nähe des Todes. Und doch würde derselbe Mensch auf dem Schlachtfeld furchtlos den Kugeln trotzen.
     

IV.
     
    Am andern Morgen erhielt er einen wenig willkommenen Besuch. Verschiedene Male hatte er sich verleugnen lassen – diesmal ging's nicht mehr an. Eine seiner zudringlichen »Verehrerinnen« (aus der Ferne) lief ihm die Bude ein. Fräulein Aurelie v. Fellmarch (»Baroneß« ließ sie sich betiteln, aus eigener Machtvollkommenheit), die wabernde Brunhild-Sängerin versicherte ihm in hundert Briefen und auf einem Dutzend Photographien, er sei der männlichste Mann und sie das weiblichste Weib der Literatur. Sie gab's ihm Schwarz auf Weiß, daß nur ein großer Mensch auf Erden lebe, nämlich Er. Außer diesem Ur-Normal-Universalmenschen gebe es aber noch ein Riesenwesen, nämlich die Urmenschin, das Normalweib, und zwar Sie selbst – die Einzige, die Ihn begriffe.
    Leonhart erwartete sie mit gelindem Entsetzen. Erinnerte er sich doch der urkomischen Enttäuschung einer bekannten Schriftstellerin (natürlich »Baronin,« darunter thut man's heut nicht mehr und hebt am liebsten auf den Büchern den Titel ausdrücklich hervor, um die schöne Leserin zu leimen), als sie auf dem berüchtigten Schriftsteller-Strebertag Anno 1885 einige Geisteshelden leibhaftig sah! Hätte sie nicht noch die »hohe blonde vornehme Erscheinung« eines vielbegehrten Damenlieblings und einige letzte Säulen entschwundener Pracht bewundern dürfen, so wären all ihre Illusionen geknickt worden.
    Mit sardonischem Lächeln ließ Leonhart also seine heißhungrige Verehrerin in seinen Käfig ein. Er wußte, was er von dem genialen Brunhildenthum schmierender Löwinnen zu halten habe, da hinter patchouliduftiger Geziertheit beim Weibe stets nur die philiströse hohle Äußerlichkeit lauert.
    Eine ziemlich hübsche leidlich imposante Donna trat ihm entgegen und schien auch wirklich etwas betroffen über den unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Doch ließ sie als gewandte Weltdame sich nichts merken, sondern bemerkte nur mit erzwungen unbefangenem Lachen: »Ich hätte Sie mir freilich etwas anders gedacht, viel wilder und viel – viel riesiger.«
    »Einen, der gut..« wollte es Leonhart herausplatzen, aber er verschluckte es noch rechtzeitig und lud die Dame höflich ein, Platz zu nehmen. Diese begann nun in hochtrabendem Ton, indem sie ihn immer »Herr Wahlverwandter« anredete, ihren größenwahnsinnigen Weltbeglückungsunsinn vorzukäuen. Sie schien sich für eine Art Madame Théot, für eine Regeneratorin des Menschengeschlechts zu halten. Mit ihrem rothen Sonnenschirm (sie trug auch rothe Stöckelschuhe und rothes Hütchen) wies sie figürlich auf sich als neue Madonna, als jungfräuliche Mutter eines neuen Heilands der Idee. Leonhart glaubte ja gern an dies tiefgefühlte Bedürfniß – nur die unbefleckte Empfängniß wollte ihm nicht recht einleuchten.
    Indem sie eine russische Papyros sich ungenirt ansteckte, betrachtete ihn die holde Wahlverwandte immer noch mit zweifelhaften Blicken. Leonhart lächelte verstohlen und seltsame Gedanken schossen ihm durch den Kopf.
    Jedes Menschen Charakter und Geist steht deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Doch nur Wenige verstehen es zu lesen. Von Genies hat man gesagt, sie sähen unbedeutend aus. Vor dem klassischen Kopf Napoleons riefen die Pariser: »Die häßliche Kröte! Wie gelb er ist!« Aber noch mehr: Die Wenigen – bildende Künstler, Dichter und Staatsmänner –, welche diese Kunst verstehen, mißtrauen sich darin und verwirren sich bei zunehmendem Verkehr. Sei mit einem Schuft befreundet, so wirst du bald genug verlernen, die offene klare Sprache seines Gesichts zu lesen. Entscheidend ist daher nur der erste Eindruck.
    Wie Wenige giebt es, die über ein »unscheinbares« Aeußere (im gewöhnlichen Weltsinn) wegsehen können!
    Alles was wir von Shakespeare wissen, die Thatsache seiner Verkleinerung bei Lebzeiten und plötzlichen Vergötterung nach dem

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