Grolar (German Edition)
grollendes, kehliges Röhren schwoll im Wald an, ein tierischer Ruf voller Schmerz und Wut, der Jon einen Schauer über den Rücken jagte, wie er ihn noch nie gespürt hatte. Das Gebrüll dauerte an und verschmolz mit seinem eigenen Echo zu einem Schrei, der aus allen Richtungen zu kommen schien: vom See, vom Wald und von den Bergen.
Dann war es still.
Statt Blut rann Eiswasser durch Jons Adern, nahe am Gefrierpunkt.
»Heilige Scheiße. Was war das denn? Sowas habe ich im Leben noch nicht gehört«, sagte Ray zu Marten.
Der schüttelte stumm den Kopf.
»Fuck, das war wohl der Todesschrei von dem Ding«, sagte Dick.
»Hört sich so ein Grizzly an?«, fragte Kelly.
»Wow, wie zehn Grizzlys auf einmal«, meinte Andy, der noch seinen glühenden Ast in der Hand hielt, eine dünne Spur Rauch kräuselte sich hoch in die kalte Abendluft, die Flamme war mittlerweile erloschen.
Lucky lag flach am Boden. Ray kniete sich neben ihn, streichelte ihm über den Kopf, »Und so habe ich dich auch noch nicht gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Marten.
»Okay, Jungs, Mädels, die Party ist vorbei«, Ray richtete sich auf, »ich würde vorschlagen, jeder holt seine Waffe, dann packen wir die Essensreste weg in die Container und löschen das Feuer. Dann gehen wir alle schlafen. Morgen wird ein langer Tag.«
Tara sagte kein Wort, während sie mit Cliff an der Hand hinter ihm zum Trailer ging. Sie hatte sich bewusst einige Meter zurückfallen lassen, weil sie nicht neben ihm gehen wollte, das wusste er, denn er war zwischendurch extra langsamer gegangen, ohne dass sie aufholte. Sie hatte also auch ihren Schritt verlangsamt.
Die ganze Zeit behielt er den Waldrand im Auge, der nun still und dunkel vor ihm lag.
Jon ahnte, was los war, was sie störte: Er holte seine Waffe.
Als er ihr die Tür aufhielt, sprang sie an ihm vorbei und schickte Cliff ins Schlafzimmer, wo er seinen Vancouver-Canucks-Pyjama anziehen sollte. An einem guten Tag schaffte er das schon alleine.
Mit Lippen so schmal wie Schnürsenkel schaute sie Jon an, »Du hast eine Waffe? Eine Waffe?«
Er schloss hinter sich die Tür, »Jeder hat ...«
»Eine Waffe ist hier irgendwo?«, mit den ausgebreiteten Armen deutete sie um sich.
»Ja.«
»Wo?«
»Da oben«, er ging auf den Kühlschrank zu. Er bewahrte den Colt in dem kleinen Hängeschrank darüber auf, »Cliff kommt da nicht dran.«
»Mit einem Stuhl ...«
»Auch mit einem Stuhl nicht«, Jon öffnete den Schrank und zog zwischen zwei Canadian Tire Werkzeugkisten den Colt am Griff heraus.
Tara ging einen Schritt zurück, «Ist die geladen?«
»Sie ist gesichert.«
Gab es irgendetwas, woran sie nichts zu kritisieren hatte? Wenn er einen Fehler gemacht hatte, dann den, die Waffe nicht bei sich zu haben, als der Grizzly auftauchte.
»Wozu eine Pistole? Davon hast du nichts gesagt. Nie, nicht vorher, nicht am Telefon.«
»Tara, wir sind hier in der Wildnis. Du hast doch gesehen ... es ist doch klar, dass man hier etwas braucht, gegen die Tiere. Das ist nicht Vancouver.«
Sie ließ die Schultern hängen, »Und das ist nicht Jon, Jon, der eine Pistole besitzt.«
»Zum Schutz.«
»Du hast noch nie eine ... wie teuer war die überhaupt?«
»Nichts, nichts, das ist Rays, er hat sie mir geliehen.«
»Und du hast sie genommen.«
»Natürlich!«
Sie überlegte, »Hat Andy auch eine?«
»Ja!«
»Dann trägt hier jeder Idiot eine Waffe, und Cliff spielt dazwischen herum?«
»Wir tragen nicht alle die ganze Zeit die Dinger. Tagsüber ist es zu laut, da traut sich kein Tier ans Camp. Nur abends ...«
»Mami!«, rief Cliff.
»Ja, Schatz«, sagte Tara und marschierte zum Schlafzimmer.
Jon ließ seinen Blick durch den Wohnwagen kreisen. Ja, wenn man von draußen rein kam, roch es etwas muffig, ja, die Einrichtung war sehr einfach, nicht neu, ja, man konnte besser wohnen, aber mit einer anderen Einstellung könnte das hier auch ein romantischer Ort sein: die Wildnis, ein Trailer, Goldschürfen, Natur – Kelly und Andy lebten das. Egal, was passiert, die beiden werden sich später in ihrem Leben gerne an diese Zeit erinnern. Und wer weiß, wenn sie wirklich das große Geld machen, bleibt sie vielleicht sogar bei ihm, und sie erinnern sich zu zweit.
Er
Weitere Kostenlose Bücher