Grolar (German Edition)
reizen. Sie konnten ihr hier sowieso nicht helfen, selbst wenn sie wollten, was sie allerdings bezweifelte. Jon hatte gesehen, wie sie sich das Gold geschnappt hatte und sicher den anderen davon erzählt. So doof war er dann doch nicht. Auch wenn sie ansonsten das Gefühl hatte, sie könnte ihm alles versprechen, er würde ihr es glauben.
Das mächtige Tier blickte zu ihr auf und schnaufte, als wäre es außer Atem.
Das Blut lief ihr aus dem Gesicht und floss von ihrem Kinn in ihren Ausschnitt, über das Gold, durchnässte ihr Top und troff auf ihr Bein, wo es von den Leggings aufgesogen wurde. Als sie jedoch ihr Gewicht nach vorne verlagerte, regnete es wie aus einem Duschkopf herab auf die Schnauze des Grolars.
Der stieß sich ansatzlos mit seinen Hinterbeinen ab, während seine Pranken über den Baumstamm ihr entgegenliefen und sämtliche Äste auf ihrem Weg abrasierten. Das Maul hatte er weit aufgerissen, und er brüllte sie an wie ein Monster aus vergangener Zeit.
Sie wollte sich bewegen, weiter nach oben steigen, aber sie erstarrte angesichts der ausweglosen Naturgewalt und zog nur ihre Beine an. Das war ihr Glück, denn dort, wo zuvor ihre Gummistiefel baumelten, schlossen sich krachend seine Kiefer und zermalmten alles Holz dazwischen wie Styropor.
Mehrfach schnappte er nach ihr, doch es fehlte ein halber Meter zwischen ihr und einem gnadenlosen Tod. Sie zitterte am ganzen Körper und klammerte sich verzweifelt an dem Stamm fest, sie zitterte wie jemand in seinen letzten Fieberschüben, und sie roch den fauligen Atem des Tieres, das ihr brüllend seinen heißen Speichel entgegenspritzte. Die dunklen Ringe um seine Augen verliehen ihm etwas Gnadenloses, und das fehlende Ohr zeugte davon, wie wenig er zu verlieren hatte.
Sie schrie zurück, sie schrie ihn an, einfach, weil sie es nicht mehr aushielt, hell und kreischend, irgendwelche Laute, als Ventil ihrer Angst. Es war, als würden die beiden sich gegenseitig in etwas hineinsteigern. Dann ließ sich der Bär wieder herunterfallen und wohnte dem Geschehen scheinbar teilnahmslos bei. Er ließ sie ausschreien, bis sie nur noch sein Schnaufen und das Blubbern ihres Blutes in der Nase und ihren Mund hörte.
Der Grolar lehnte sich gemächlich gegen den Baum, und für einen Moment dachte sie, er beruhigte sich, ließ von ihr ab, resignierte, oder kratzte seine Flanke. Bis ihr durch das Ächzen des Holzes klar wurde, dass er den Baum entwurzeln wollte, ihn umstürzen wollte, samt ihr, wegen ihr!
»Nein«, kam es über ihre geplatzten Lippen. Die Löcher der herausgebrochenen Zähne zogen einen viehischen Schmerz hinauf bis zu ihrer Stirn.
Sie spürte, wie sich der Baum gegen die rohe Gewalt stemmte. Und der Grolar begann, sich mit seiner Flanke gegen den Baum zu werfen. Es war kein stetes Drücken, sondern ein heftiges Aufprallen, und sie umarmte den dicken Stamm wie ein Kind das Bein seiner Mutter, denn sie drohte unter den Erschütterungen aus dem Baum zu fallen, selbst wenn dieser dem Druck standhalten würde. Vielleicht war das ja auch seine Absicht.
Kelly presste ihr Gesicht flach gegen die grobe, regennasse Rinde, und die ruckartigen Vibrationen fühlten sich an, als würde unten ein Lastwagen gegen den Baum fahren. Der rechte Gummistiefel rutschte von ihrem Fuß, sie hörte den dumpfen Aufprall auf der Motorhaube.
Sie setzte sich rittlings auf den Ast und schlang die Beine darum, um einen möglichst sicheren Halt zu haben. Bei jedem Einschlag spürte sie die Goldbeutel unter ihrem Tanktop am Bauch.
Mit dem Ohr am Holz hörte sie das dumpfe Quietschen und Ächzen, aber weder gab der Baum nach, noch verließen ihre Kräfte sie. Trotz ihrer Verletzungen.
Und dann war es vorbei. Er hörte einfach auf. Der Grolar verzog sich, er gab auf, sah ein, dass es keinen Sinn machte, sich weiter gegen den Stamm der alten Fichte zu werfen. Am Ende des Pick-ups schaute er sich um. Als überlegte er.
Von unten gähnte sie die Motorhaube an, ihr Blut tropfte in die Schwärze des Motorblocks.
Der Grolar blieb lange dort stehen, regungslos vor sich hinstarrend, so lange, bis sie ihn nicht mehr weiter anschauen konnte.
Glatt lag der See in der Landschaft mit den Bergen und den Sternen darüber wie ein schönes Gemälde, in dem einzig der brennende Trailer störte. Auf dem Platz im Camp loderten die Flammen aus dem Wohnwagen und warfen zitternde Schatten über den Boden
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