Gromek - Die Moral des Toetens
»Werkstatt
gesichert!« hörte, stürmte das erste Team die Tür des Verschlags. Vorbei an der
Theke und den Schwarzweiß-Fotografien, arbeiteten sich die Beamten durch das
unordentliche Büro zum hinteren Teil des Schuppens vor. In einem der
rückwärtigen Räume fanden sie den Gebrauchtwagenhändler. Er lag auf einer
zerschlissenen Matratze, deren Überzug gerade noch die von seinem Körper
deformierte Schaumstoff-Füllung beieinander zuhalten vermochte, und schnarchte
leise. Mit jedem Atemzug drang ein leichtes Rasseln aus der Tiefe seiner Kehle.
Auf dem Boden, gleich neben dem Lager und in Reichweite seines noch im Schlaf
ausgestreckten Armes, lag eine leere Flasche Jägermeister.
Getrieben von Unmut und dem Gefühl, zu spät zu kommen, steuerte
Lisa den Japaner an der S-Bahnstation Hohenzollerndamm vorbei. Sie hatte
bereits die eine oder andere rote Ampel überfahren. Wenige Augenblicke später
kam ihr Haus in Sicht. Zwei große Transporter hatten davor geparkt. Die
Eingangstür stand offen. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Lisa begriff, was
sich vor ihren Augen abspielte: Ein halbes Dutzend Möbelpacker war gerade damit
beschäftigt, ihr gesamtes Mobiliar in die Transporter zu laden. Lisa wollte
sofort aussteigen, um zu protestieren, doch Gromek hielt sie mit einem festen
Griff am Arm zurück.
Einen Moment lang schaute sie ihn an, als sei er auf der Seite der
Männer, die soeben ihre Couchgarnitur ins Freie bugsierten. Sie öffnete den
Mund, als wollte sie etwas sagen, dann schloss sie ihn wieder. Gromek nahm die
Hand von ihrem Arm.
»Ruf lieber deine Freundin Gerda an und frag sie, ob mit den Kindern
alles in Ordnung ist.«
Fassungslos starrte Lisa von dem Mobiltelefon, das er ihr
hinhielt, auf ihr Haus und zurück. Ungerührt trugen zwei von den Möbelpackern
den Küchentisch heraus, an dem sie noch vor wenigen Stunden gesessen hatten.
»Das gibt es doch gar nicht! Das können die doch nicht machen!«
brach es aus ihr heraus. »Das ist mein Haus! Wieso tun die sowas?«
»Aber das weißt Du doch längst - die wollen uns auf ihre Art klar
machen, dass wir ...«
»Dass wir was ...? Schon tot sind und es nur noch nicht wissen?
Warum sprichst Du es denn nicht aus?«
Den Tränen nahe, griff Lisa nach dem Mobiltelefon und wählte
Gerdas Nummer, während Gromek sich zurücklehnte und das Haus im Auge behielt.
Tatsächlich hatte er die Maßnahme, deren Zeugen sie gerade waren, in seiner
Zeit als Abteilungsdirektor von Sektion-4 oft genug selbst angeordnet.
Zum ersten Mal erlebte er sie von der anderen Seite. Wortlos sah er zu, wie
Lisa und ihre Kinder ihr Zuhause verloren, und bedauerte, dass er, zumindest im
Moment, nichts dagegen tun konnte.
Gerda hatte ihr Telefon in der Küche, und ähnlich wie in vielen
amerikanischen Haushalten war es an der Wand montiert. Zunächst hob niemand
ab. Es war völlig still im Haus. Beim fünften Klingeln öffnete sich die zwei
Zimmer entfernte Terrassentür, und das fröhliche Geschnatter mehrerer Kinder
schallte herein.
Eine von einem Vormittag mit fünf lebhaften jungen Menschen doch
etwas mitgenommene Gerda nahm den Hörer ab, der mit dem Apparat über eine
endlos erscheinende Schnur verbunden war: »Hallo? - ... - Wer? - ... - Lisa!? -
... - Nein. Hier ist alles in Ordnung - ... - Aus dem Fenster? Aber wieso? -
... - Na, wenn Du meinst - ...«
Mit dem Hörer am Ohr schob Gerda die Gardinen ihres Küchenfensters
zur Seite und sah - ohne besondere Motivation und ohne zu wissen, worauf sie
eigentlich achten sollte - auf die Straße. Den dunkelgrünen Bus, der in 30
Metern Entfernung vor einem der Nachbarhäuser stand, registrierte sie kaum. Sie
ahnte nicht einmal, welche Gefahr sich in diesem Fahrzeug verbarg.
»Lisa? - ... - Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken - ... -
Nein, Lisa. Lisa? Was ist denn los? - ... - Ich soll was? - ... - Jetzt sofort?
- ... - Und meine eigenen drei? - ... - Also gut. Ja, mach' ich. Ich weiß zwar
nicht warum, aber - ... - An der Schule? - ... - Meinetwegen. Also bis gleich.«
Irritiert legte Gerda den Hörer auf. Unsicher, weil ihr nicht klar
war, weshalb ihre Freundin sich plötzlich so seltsam verhielt, kehrte sie zum
Fenster zurück und schob die Gardinen ein zweites Mal zurück, um hinauszusehen.
Ihrem Blick bot sich nichts als das übliche Bild einer vollgeparkten Straße,
die ansonsten beschaulich in der Samstagnachmittagssonne lag. Gedankenverloren
nahm sie einen Apfel aus einer Schale, die vor ihr auf dem
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