Große Ferien
Krankenhauses, wo sonst, hatte Schramm diesen Artikel gelesen. Zufällig hatte die Zeitschrift dort gelegen, ein nicht besonders unauffälliger Hinweis. Er brauchte allerdings keine Zeitschrift, um zu wissen, dass Sorgfalt nicht hoch im Kurs stand. Waidschmidt war nur ein Beispiel dafür. Man konnte über diesen sagen, was man wollte, mögen musste man ihn gewiss nicht. Er war, in aller zur Schau gestellten Askese, ein durch und durch verzogener Junge gewesen, berechnend und keiner menschlichen Regung fähig. Zu diesem Urteil konnte nur einer kommen, der ihn kannte, die allermeisten wussten so gut wie nichts über ihn. Aber wenn ein Bild erst in der Welt ist, wird es in der allgemeinen Meinung nur immer noch weiter verfestigt werden, gleich, in welche Richtung man sich bewegt. So sehr gespottet und sogar geklagt wurde, selbst von den Lehrern geklagt wurde über Waidschmidts Pedanterie, seinen übertriebenen Fleiß; so groß war das Geschrei, als er beinahe vom einen auf den anderen Tag in Verweigerung umschlug. Was die Menschen nicht ertragen, ist, wenn einer konsequent vorgeht.
Er übertreibe, hatte es über Waidschmidt geheißen, er übertreibe, hieß es über Schramm. Doch geschielt wird auch nach dem, der alles schleifen lässt. Wo einer gestorben war oder etwas anderes im Argen lag, sah es auch danach aus, wie bei Schlaudt, bevor sie ihn geholt hatten, und nicht nur dort wuchs, was wollte, scharrte der Rotdorn an verhängten Fenstern und faulten Schwimmpflanzen im Teichwasser, und auf dem Garagendach hockte ein Pelz aus Moos.
So weit braucht man es nicht kommen zu lassen. Einen Rhythmus müssen die Tage haben, eine Struktur und immer die gleiche Form, eine Form, die man mit beiden Händen packen kann. Die größte Gefahr lag in der Selbstüberschätzung. Das wusste Schramm besser als jeder andere und das hatte er auch mit Waidschmidt zu bereden versucht. Man verrennt sich, hatte Schramm gesagt, das ist das Typische, hatte er gewarnt, das eine Mal, als er Waidschmidt zu sich bestellt hatte, weil er aus dem Verhalten des Jungen nicht mehr klug geworden war.
Auf keine seiner Fragen hatte Waidschmidt eine Antwort gegeben, sie abgetan stattdessen mit müde abgewandtem Gesicht und blassen Redensarten, ehe er ihm, beinahe aus dem heiteren Himmel heraus, in auffallend harmlosen Ton eine Frage stellte, seine kleine, alberne Frage, die sich doch tief und tiefer in die Gedanken hineingrub. Wie halten Sie das eigentlich aus, fragte Waidschmidt. Ich an Ihrer Stelle hätte längst den Verstand verloren, Verstand verloren oder umgebracht oder beides, sagte er, beides nacheinander. Du reitest dich hinein, sagte Schramm. Aufpassen, warnte er, wie er warnte, wenn einem Schüler in einer Aufgabe mehr Fehler unterliefen als gewöhnlich, aus Mangel an Aufmerksamkeit: Ich bin nicht mehr sehr zufrieden mit dir in letzter Zeit. Es hat schon viele gegeben wie dich. So redete er und merkte doch, dass Waidschmidt schon gar nicht mehr bei der Sache war. Als rechnete er mit dem, was als Nächstes käme, als wüsste er schon alle Sätze, und er, Schramm, kannte sie ja selbst: Eine der größten Gefahren ist die Anmaßung, das wirst du noch begreifen, wer viel will, will in Wahrheit nichts, weiß er doch nur zu gut, dass er sein Ziel nicht erreicht. Denk einmal darüber nach. Waidschmidt streckte seinen Nacken, Kinn an der Kehle. Verstand verloren oder umgebracht, sagte er, oder beides, beides nacheinander.
Schramm hatte nicht Lehrer werden wollen, er hatte, wie viele, einmal etwas anderes vorgehabt. Man kann es schlimmer treffen, das hatte er bald verstanden, trotzdem war er zum Schluss nur mehr unwillig hingegangen. Schon morgens, beim Kaffee im Stehen an der Anrichte, war der Widerwille da. Die gleiche Unlust, die er in den vor ihm gereihten Gesichtern sah, wenn er sie anhielt zur Bezwingung des inneren Schweinehunds. Niemals übermächtig wurde dieser Widerwille in ihm. Ein kurzes Auffliegen nur. Fort und vorbei ging es, wenn er, den Koffer in der Schwinghand, die Auffahrt zum Schulhaus hinaufschritt. Mit aufgerichtetem Kreuz und frischem Gefühl trat er an das Pult und legte seine Hände an die Kante.
Es war nicht gelogen, wenn Schramm sagte, vom ersten Tag an habe ihn der Beruf mit Befriedigung erfüllt. Und dabei war »Erfüllung« das ganz falsche Wort. Er suchte keine Erfüllung, er leerte sich aus. Je länger er sprach, desto weniger blieb von ihm. Im Sprechen verfertigt keiner die Gedanken, wie überhaupt Gedanken nichts sind,
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