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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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ununterbrochen auf die Kinder einstürzt, gewinnt es in ihrem Kopf die Überhand. Ehe sie sich überhaupt in der Welt der Werte orientieren können, sind sie bereits im Dornengestrüpp der Missachtung und Relativierung von moralischen Regeln verfangen. (Es gibt Untersuchungen, die festgestellt haben, dass viele Kinder bereits bis zum Schuleintritt am Fernseher über 1.000   Morde »miterlebt« haben   – ganz zu schweigen davon, wie viel mehr es sind, bis die Kinder 12 oder 13   Jahre alt sind.)
    Dazu kommt, dass auch die leibhaftigen Erwachsenen, mit denen die Kinder zusammenleben, zwar wundervolle moralische und soziale Regeln predigen, aber je genauer Kinder die Erwachsenen beobachten, umso deutlicher wird ihnen, dass es mit anständigem und fairem Verhalten bei denen auch nicht so weit her ist. Viele Kinder erleben ständig von den eigenen Eltern oder Lehrern, dass Demütigungen, Misshandlungen, auch Schläge scheinbar etwas »ganz Normales« sind. Kinder
müssen
deshalb austesten, welche Regeln denn nun wirklich im Umgang miteinander gelten. Deshalb verstoßen sie selbst immer wieder gegen alle Regeln. Sie wissen ja noch nicht, was wirklich »zu weit« geht und was gerade noch hinnehmbar ist. Sie probieren die Grenzen aus, indem sie die Erwachsenen provozieren und die Klassenkameraden (und andere Lebewesen) drangsalieren.
    Um herauszubekommen, was die Erwachsenen noch »in Ordnung« finden und was schon »richtig schlimm« ist, erfinden Kinder die unmöglichsten Dinge. Wilhelm Busch hat in
Max und Moritz
ein Lied davon gesungen. Ein harmloseres Beispiel ist dieser originelle Einfall, den Max Kruse und seine Freunde um das Jahr 1864 herum in Berlin hatten:
     
    Einen Witz hatten wir, der unser ganzes Stadtviertel in Aufregung versetzte. Wir konnten Kanonenschüsse nachmachen und das bewerkstelligten wir folgendermaßen: Unser Spielplatz war   ... auch noch Holzplatz, und da gab es riesige vierzöllige Bohlen. So eine Bohle wurde nun mit Böcken und Stangen senkrecht aufgestellt, dann wurde sie langsam zum Kippen gebracht, und nun war das Kunststück, auf der fallenden Bohle so schnell und so hoch wie möglich hinaufzulaufen, dann gab’s einen donnerähnlichen Knall auf dem Sandboden. Wir haben oft, wenn uns die blauen Kalitten (die Schutzleute) nicht vorher verscheuchten, 101   Kanonenschüsse abgegeben und alles in helle Aufregung versetzt über die glückliche Geburt eines Thronfolgers!
(Kruse, S.   51)
     
    Viele Erwachsene halten Regelverletzungen von Kindern für Anzeichen von Charakterschwäche. Um »Scheiß zu bauen«, muss ein Kind aber Ideen haben, Initiative entwickeln, eigenständig handeln können und nicht zuletzt Mut aufbringen.Sind das nicht Eigenschaften, die unter Erwachsenen als Zeichen von Charakterstärke gelten?
    Wo haben Kinder heute aber noch unbewachten Bewegungs- und Spielraum, um auf solche Ideen zu kommen wie Max Kruse und seine Kumpel? Müssen unsere modernen Kinder nicht mit ihrem Bedürfnis, auf eigene Initiative und eigenes Risiko gegen »Regeln« zu verstoßen, auf abgegriffene, phantasielose Aktionen zurückgreifen, wie Klingelstreiche, Rauchen, heimliches Fernsehen, Alkoholtrinken, Klauen (aus offenen Regalen, was kein »Kunststück« ist!)? Oder bleibt ihnen nur, damit die Erwachsenen wirklich einmal alarmiert reagieren und aufhorchen, gelegentlich »richtig brutal« zu sein? So wie die »Bösen« im Fernsehen? Und holen nicht viele die verpassten »Streiche«   – in erheblich schärferer Form   – nach, wenn sie »alt genug« sind?
    Wenn sich Kinder »unmöglich« benehmen, regen sich viele Erwachsene maßlos auf und erheben heftige Vorwürfe. Sie gehen davon aus, dass das Kind doch wissen müsste, was Recht ist und was Unrecht. Dabei wird übersehen, dass hinter dem Fehlverhalten eines Kindes sehr oft die einfache Frage an uns Erwachsene steht: Geht das schon zu weit? Es wäre für alle Beteiligten viel einfacher, wenn es uns häufiger gelänge, auf diese Frage unaufgeregt zu reagieren und klar und deutlich, aber liebevoll zu signalisieren: So geht es nicht! Und die Kinder würden sich beruhigt trollen.
    Wenn man herausfinden will, was im Zusammenleben von Menschen in Ordnung ist und was zu weit geht, sind gleichwertige Partner der beste Maßstab. In Gruppen und Grüppchen, Banden und Cliquen und in verschworenen Einzelfreundschaften entwickeln Kinder ihre eigenen Regeln und Gesetze und spielen mit Strenge und Nachsicht. Sie probieren aus, was für einen anderen

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