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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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Grundbedingungen für soziales Verhalten.
    In der folgenden Szene, beschrieben von Max Kruse, wird deutlich, wie viele Elemente des sozialen Umgangs in einem unbeaufsichtigten Spiel einer Kindergruppe gleichzeitig »bearbeitet« werden: Eine für heutige Verhältnisse riesige Gruppe von Kindern, die im Alter ziemlich weit auseinander liegen (zwischen 8 und 15), spielen zusammen. Das funktioniert, weil sich alle auf bestimmte Regeln verlassen können: Die Älteren nehmen auf die Jüngeren Rücksicht, und es werden sich nie zwei gleichzeitig auf einen stürzen. In dieser Gruppe gibt es klar bestimmte Positionen: Es gibt »Anführer« und »Gefolgsleute«, »Große« und »Kleine«.
    Im Spiel ahmen die Kinder eine Form von »Konfliktlösung« nach, die sie von den Erwachsenen kennen: Etwa 1862 spielen sie in Berlin als »Indianer« »Kampf«. Dass es kaum ernsthafte Verletzungen gibt, hängt damit zusammen, dass die Kinder sehr wohl spüren und austasten, was dem Gegner noch zuzumuten ist und was zu weit geht. Das Wichtigste an diesem Spiel ist aber offenbar das Gemeinschaftsgefühl, diese Gewissheit,gemeinsam dieses Spiel durchgetragen und unbeschadet überstanden zu haben, weil sich alle an die gemeinsamen Regeln und an die unausgesprochenen »ethischen Normen« gehalten haben. Und das wird am Ende gefeiert:
     
    Die ganz große Kinderschar der Nachbarschaft versammelte sich auf unserem Hofe, es waren an die 30 bis 40   Jungens, die da an gewissen Tagen zusammen kamen   ... Ich verdanke die Ehre, mitmachen zu dürfen, wohl nur dem Umstand, daß mein Bruder Oskar einer der Häuptlinge war. Unsere Prärien lagen aber jenseits der Straße an der Spree   ... Hier wurden furchtbare Schlachten geschlagen; die aufgestapelten Bohlen und Balken waren die herrlichsten Burgen, die belagert werden konnten, zuerst mit Flitzbogen und Wurfspeeren beschossen und dann mit Lanzen berannt: zum Schluß mit Tomahawk und Dolch im Nahkampfe genommen. Es ging nicht sanft zu bei dem Ringen, und man kann nur glauben, daß eine höhere Macht die Kinder schützte, besonders weil es gegen die Ehre gegangen wäre, Verwundungen die Eltern sehen zu lassen   ... Nach den Kämpfen ging’s dann wieder über die Straße in unseren großen Hof, und dort wurde ein Kriegstanz vollführt mit ohrenzerreißendem Gebrüll und Gepfeife und zum Schluß die Friedenspfeife geraucht (mit getrockneten Nuß- und Kastanienblättern gestopft)   ...
(Kruse, S.   24)
     
    Harte Kämpfe im Alter zwischen 8 und 13, ohne dass etwas Ernsthaftes passierte: Das sind Erinnerungen von Männern auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten!
    Das ist kein Zufall. Abgesehen davon, dass die Körperkräfte noch nicht voll entfaltet und die Schläge noch nicht gar so gefährlich sind, spüren Kinder in diesem Alter normalerweise intuitiv, wie weit sie gehen können. Nie hätte ein Junge ernsthaftden anderen verletzen wollen, was mit den selbst gebastelten Waffen durchaus möglich gewesen wäre. (Ernsthaftere Verletzungen waren »Ausrutscher« oder Unfälle, die natürlich auch, aber überraschend selten passiert sind). Heute sind diese Auseinandersetzungen ins Jugend- und frühe Erwachsenenalter verlagert, wo zum Beispiel Hooligans gezielt gegeneinander antreten und sich teilweise schwer verletzen.
    Wenn Kinder gegeneinander »kämpfen«, geht es darum, die Grenzen zwischen Spiel und Ernst kennen zu lernen. Die Worte von Erwachsenen und Lehr- oder Spielfilme können Kindern nur sehr abstrakt, sehr unpersönlich und deshalb nicht überzeugend vermitteln, wo die Grenze eines anderen überschritten wird. Wann der Punkt erreicht ist, wo man einem anderen wehtut, kann man nur im direkten Kontakt mit ihm spüren lernen. Und nur so können sich letztlich Taktgefühl und Einfühlungsvermögen bilden.
    Kinder heute sehen nicht nur Gewalt, sondern auch viele andere Formen des sozialen Miteinanders vorwiegend am Bildschirm oder auf der Leinwand. Von
erleben
kann da keine Rede sein, denn beim Zuschauen bleibt man aus den sozialen Kontakten ausgeschlossen.
    Kinder heute wissen tatsächlich nicht mehr, wie weh ein Tritt tut und dass eine Lippe sehr schnell blutig geschlagen ist. Sie glauben, dass ein ungezügelter Faustschlag oder ein kräftiger Fußtritt etwas ganz »Normales« sind, wenn man sich über einen anderen ärgert. Ahnungslos und unkontrolliert setzen sie dann diese Muster des »sozialen Umgangs« irgendwann unvermittelt ein, wenn sie meinen, sich gegen Gleichaltrige oder sogar

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