Große Kinder
Jüngere behaupten zu müssen.
Die Erwachsenen erschrecken über die »maßlose« Aggressivität der Kinder so sehr, dass sie Auseinandersetzungen in Form von Balgereien strikt untersagen. Stattdessen wäre es fürdie Jungen besser, wenn sie sich tatsächlich aufeinander einlassen könnten und zu ihrer Sicherheit von den Erwachsenen klare Regeln der Fairness für den »Kampf« bekämen. Wir hatten als Kinder zum Beispiel die klare Vereinbarung, dass beißen, kneifen, kratzen, spucken, treten, an den Haaren ziehen und boxen beim Streiten und Kämpfen nicht galten. Jeder kannte diese Reihe und alle hielten sich daran, auch wenn es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen kam – auch unter den Mädchen.
Alle natürlichen Kulturen kennen Kampfspiele mit festen Regeln, in denen Jungen und junge Männer körperliche Auseinandersetzungen üben und lernen, die Grenzen zwischen Spaß und Ernst einzuhalten. Aber welcher Junge traut sich denn heute bei uns noch einen kleinen Ringkampf zu? Sie haben ja selber das Gefühl, dass es unzulässig und gefährlich ist, sich körperlich und, im übertragenen Sinn, auch persönlich aufeinander einzulassen. Außerdem sind nicht wenige Kids schon mit 10 Jahren mit Messern und Ähnlichem bewaffnet, womit eine natürliche körperliche Auseinandersetzung kaum möglich erscheint. Umgekehrt »brauchen« heutige Kinder aus ihrer Sicht wahrscheinlich Waffen, weil sie keine Erfahrung im echten Kräftemessen haben und sich mit ihrer Bewaffnung vor den unbekannten, mithin gefürchteten Auseinandersetzungen schützen wollen. Darüber hinaus haben Waffen einen erstaunlichen Effekt: Man kann andere einschüchtern, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, egal wie unsicher und ängstlich man sich insgeheim fühlt.
So weichen Kinder heute eher voreinander angstvoll aus, als sich aufeinander einzulassen. Und so lernen sie weder sich selbst noch die anderen kennen.
Auch Mädchen balgen gern miteinander, auch mit Jungen, die jüngeren lieber als die älteren. Auch Mädchen probieren untereinanderdie Grenzen der Verletzlichkeit aus. Allerdings spezialisieren sie sich offenkundig eher aufs Innere: Sie schießen offen oder versteckt ihre wohl gezielten Wortgiftpfeile ab und sind dann meistens überrascht, wie sehr sie ins Mark treffen. Auch das sind Erfahrungen, die für Kinder sehr schmerzlich sein können. Dennoch darf man nicht übersehen, dass ein Gefühl für seelische Verletzung ebenso wenig angeboren ist wie das Gefühl für die körperliche Schmerzgrenze. Und so können auch seelische Verwundungen nur im Umgang mit Gleichaltrigen, also gleichartigen Partnern erfahren werden. (Entsprechende »Übungen«, die besonders bei etwa zehnjährigen Mädchen an der Tagesordnung sind, finden Sie im Kapitel über die »Zehnjährigen«.)
Mir fiel immer wieder auf, dass Mädchen, die in einer großen Kinderschar und sehr un(an)gebunden leben konnten, die von sich sagen, sie seien »wie Jungen« gewesen, die so viel körperliche und räumliche Freiheit genossen wie die Jungen, mit denen sie zusammen spielten und balgten, von solchen »giftigen« Auseinandersetzungen nichts berichten.
Weil räumliche Freiheit und körperliche Auseinandersetzungen unter Kindern kaum noch möglich sind, werden dementsprechend die Verletzungen, die sich auch Jungen gegenseitig antun, offenbar »weiblicher«: Mobbing ist das neue Alarmwort in den Schulen und Kinder sind tatsächlich in ihrer Erfindungsgabe oft noch grausamer, als es sich viele Erwachsene vorzustellen wagen. Mit subtilen, giftigen, hinterhältigen Demütigungen wird ausprobiert, was der andere noch aushalten kann. Wenn das Mobbing dann in körperliche Gewalt gegen wehrlose Opfer ausartet, ist das Entsetzen bei den Erwachsenen groß.
Empörung hilft aber den Kindern nicht. Sie suchen ja nach Orientierung und überschreiten dabei – notgedrungen – immerwieder Grenzen. Sie machen so lange weiter, bis sie von den Erwachsenen ein klares »Stopp! Das geht zu weit!« bekommen. Sie wollen ja erfahren, was zu weit geht, sie wollen wissen, wie man sich aneinander messen kann, ohne sich ernsthaft zu verletzen, wie man rechtzeitig »Halt!« signalisiert, ohne wehleidig zu sein, wie man seelische Verletzungen, die passiert sind, wieder gutmachen kann, wie man am anderen Kritik übt, ohne ihn zu verletzen, und wie man streitet, ohne auszurasten. Dafür brauchen Kinder Hinweise von Erwachsenen.
Erwachsene neigen dazu, hauptsächlich die negativen, aggressiven
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