Große Kinder
Verhaltensweisen von Kindern zu sehen. Das ist unfair! Denn Kinder sind auch auf der Suche nach der anderen, der positiven sozialen Seite. Wenn sich Kinder anständig, fair, kameradschaftlich, höflich, einfühlsam, bescheiden und rücksichtsvoll verhalten, finden wir Erwachsenen das leider meistens selbstverständlich. Dabei vergessen wir, wie schwierig es ist, sich »sozial« zu verhalten! Und ganz besonders für Kinder, die sich noch nicht so gut in die Situation des anderen versetzen können. Weil soziales Verhalten meistens mit der Unterdrückung von eigenen Interessen zusammenhängt, gibt es immer viel mehr Gründe
gegen
anständiges, soziales Verhalten als dafür: Soll ich Miriam, die ihre Sammelbilder verloren hat, drei von meinen abgeben? Soll ich dem Lehrer, der vor der Klasse steht und drohend fragt, wer den Kracher in der Pause losgelassen hat, sagen, dass es Peter war, damit klar ist, dass ich so was nie tun würde und damit wir nicht alle nachsitzen müssen? Ist abschreiben lassen gut oder schlecht? Soll ich Ina, die ich nicht mag, die aber unbedingt mit mir spielen möchte, sagen, dass ich keine Zeit habe? Solche Fragen, aus Erwachsenensicht oft Lappalien, können für Kinder zu brennenden Konflikten führen.
Außerdem verkennen wir, dass Kinder erst langsam und imLauf der Entwicklung in soziales Verhalten hineinwachsen. Das Gefühl dafür, wann und in welcher Form es richtig und notwendig ist, sich für einen anderen einzusetzen, ihm zur Seite zu stehen, zu seinen Gunsten zu verzichten, entwickelt sich erst allmählich. Und noch schwieriger ist es, das richtige Gespür dafür zu bekommen, was man sich selbst zumuten kann, ab wann man auch an sich denken und einem anderen einen Wunsch abschlagen darf oder ihn sogar abschlagen muss, wenn er Unzumutbares verlangt. Das ist eine Frage, für die wir auch als Erwachsene noch immer nach der richtigen Antwort suchen.
Viele Versuche von Jungen und Mädchen, nett zu sein, einem anderen eine Freude zu bereiten, sich für etwas einzusetzen, was anderen dient, anderen zu helfen, verlässlich zu sein, verpuffen aus Sicht der Kinder, weil kein Erwachsener sie registriert oder, schlimmer noch, sie nicht ernst nimmt.
In vielen Lebenserinnerungen gibt es Episoden, in denen ein Kind versucht hat, etwas Besonderes zu tun, sich für etwas einzusetzen und dann durch die Reaktion der Erwachsenen schmerzlich enttäuscht wurde. Ein Beispiel dafür ist Simone de Beauvoir, die am Ende des Ersten Weltkriegs 9 Jahre alt war und sich zur Verfügung gestellt hatte, für belgische Flüchtlingskinder Geld zu sammeln:
Die Geldstücke regneten nur so in mein blumengeschmücktes Körbchen ... Doch eine Frau in Schwarz sah mich finster an: »Warum für die belgischen Flüchtlinge? Und die französischen?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte ... Andere Schwierigkeiten kamen noch hinzu. Wenn ich des Abends den Raum des »Foyer«
(die Zentrale des Hilfskomitees)
betrat, wurde ich mit Herablassung zu meinem Erfolg beglückwünscht. »Da kann ich ja meine Kohlen bezahlen!«, sagte die
Leiterin.
(Sie hat tatsächlich nur die Hälfte des von Simone gesammelten Geldes weitergegeben; Beauvoir, S. 28).
Erwachsene ahnen meistens nicht, welche sozialen Kräfte sie mit ihren beiläufigen Missachtungen in den Kindern zerstören. Doch Kinder, die Gutes tun, die zugunsten eines anderen Kindes verzichten, die sich um andere kümmern, die versuchen, in kritischen Situationen freundlich zu bleiben statt auszurasten, hoffen so sehr, dass wenigstens
ein
geliebter Erwachsener ihre Anstrengungen wahrnimmt und seine Freude und Anerkennung darüber spüren lässt. Das würde schon genügen, um den Kindern zu signalisieren: Da geht’s lang, das ist der richtige Weg.
Wir sind doch wer!
Gemeinschaft und Identität
Z u den Errungenschaften, die durch die soziale Reifung der Kinder möglich werden, gehört ein neues Gemeinschaftsgefühl. Das ist so wesentlich für die Entwicklung der Kinder, dass es ein eigenes Kapitel verdient.
Jüngere Kinder bleiben auch innerhalb ihrer Gruppe stets jeder für sich und sogar im gemeinsamen Spiel »nebeneinander«. Kinder ab etwa 9 Jahren stecken im Spiel dagegen gewissermaßen die Köpfe zusammen: Jeder nimmt jeden wahr und empfindet sich als Teil des alle vereinenden Wir. Das Gruppengefühl, das die größeren Kinder erleben und genießen, entspricht aber noch nicht dem Solidaritätsgefühl, das im Jugendalter so wichtig wird: Jugendliche
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