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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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Erscheinungsjahre, kennen die Namen, das Alter und die Hobbys der Mitglieder der einzelnen Bands. Wieder andere sind Film- und Schauspielerexperten oder kennen alle Pferderassen oder alle Flugzeugtypen. Dann gibt es solche Besonderheiten wie das Kursbuch auswendig zu können, alle bekannten Primzahlen im Kopf zu haben oder zu wissen, welche Methoden die verschiedenen Comic-Helden in welcher Situation angewendet haben, um ihre Gegner ins Jenseits zu befördern.
    Das gilt für Mädchen und Jungen gleichermaßen, wenn auch Mädchen oft andere Schwerpunkte haben, in denen sie sich engagieren und absolute Spitze sein können: Sie übernehmen selbstverantwortlich die Pflege für ein Pferd, hüten kleine Kinder, beteiligen sich an sozialen oder ökologischen Hilfsprojekten oder sind »im Hauptberuf« Vermittler bei Konflikten innerhalb der Klassengemeinschaft und zwischen Lehrern und Schülern.
    Amelies Aktion ist typisch: Amelie war 12   Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer gleichaltrigen Freundin anfing, in ihrer Schule und im Bekanntenkreis Kleider und Spenden zu sammeln, die sie für obdachlose Kinder nach St. Petersburg schickte   – lediglich das Porto für die Pakete haben die Eltern bezahlt.
    Ist es nicht »typisch Mädchen«, dass
diese
Aktion
nicht
in der Zeitung stand? Mädchen werden eben immer noch weniger wahrgenommen als Jungen, wenn sie etwas Besonderes leisten. »Typisch Mädchen« ist wohl auch, dass es sich um eine soziale Aktion handelt und die Mädchen von sich aus nicht so viel Aufhebens von ihren Aktivitäten machen. Mädchen ist es in diesem Alter oft »peinlich«, in ihren Besonderheiten zu sehr wahrgenommen zu werden. Die Erwachsenen fallen auf diese »hübsche« Bescheidenheit herein, finden das, was Mädchen leisten, selbstverständlich und fördern Mädchen in ihrem Engagement dann meistens weniger als Jungen.
    Vielleicht ging es Amelie mit ihren 12   Jahren ähnlich, wie es fast 50   Jahre vorher Janina David im Ghetto in Warschau empfunden hat, als sie knapp 12   Jahre alt war:
     
    Außerdem sehnte ich mich danach, endlich etwas Nützliches zu tun. Es war mir immer schmerzlicher zu Bewußtsein gekommen, daß ich nichts als ein Parasit war, daß ich ein nutzloses Leben führte, und die ständigen Opfer meiner Eltern akzeptierte, ohne mich in irgendeiner Weise bei ihnen revanchieren zu können. Ich träumte davon, eine Arbeit anzunehmen, Tag und Nacht hart zu arbeiten, Geld und Essen nach Hause zu bringen, meine Familie zu ernähren, statt mich von ihnen ernähren zu lassen   ...
     
    Ein paar Monate später, im Frühjahr 1942, wird Janina 12   Jahre alt. Etwa zu dieser Zeit erleidet ihre Mutter eine Fehlgeburt. Janina schreibt:
     
    Plötzlich wurde ich überwältigt von einem Gefühl der Fürsorge und einer ungeheuren Kraft: ich werde für sie und für Vater sorgen. Ich werde kochen und sauber machen und einkaufen gehen   ...
    Ich stand vom Stuhl auf und wischte mir die Augen. Von jetzt an hatte ich das Heft in der Hand. Ich kam mir 2   Meter groß vor, und unzerstörbar   ...
(David, S.   280   f. u. S.   299)
     
    Im Mai 1994 machte in Deutschland ein Entführungsfall Schlagzeilen: Irrtümlich war die zwölfjährige Tochter eines Hausmeisters entführt und elf Tage in einer engen Holzkiste unter einer Autobahnbrücke gefangen gehalten worden. Sie wurde zufällig entdeckt und befreit. In der darauf folgenden Pressekonferenz drückten die Polizeibeamten ihr Erstaunen über die »starke und stabile Persönlichkeit« des Mädchens aus, das die Zeit in der Kiste bei ohrenbetäubendem Lärm und angesichts der bedrohlichen Lage so unbeschadet überstanden habe.
    Das Gefühl, unendliche Kräfte zu haben, im Kern unzerstörbar zu sein, fähig zu sein, die Welt verändern zu können, kurz: lebens-tüchtig zu sein, scheint ein Lebensgefühl zu sein, dass typischerweise im Alter von etwa 12   Jahren besonders häufig und besonders bewusst empfunden wird.
    Dort wo es mit der Schulpflicht noch nicht so streng zuging, haben es Kinder mit etwa 12   Jahren auch tatsächlich häufiger ausprobiert, wie es ist, das Leben selbst in die Hand zu nehmen:
     
    ... wollte ich 12jähriger Franzl im Frühjahr 1858 auch mit anderen Schulgenossen in das Schwabenland gehen, um ganz besonders zu Hause dem verhaßten Wurzelklauben in der Furche hinter dem Pfluge zu entkommen. Konnte ich in Schwaben doch einen Lohn in Barem und hohe Stiefel verdienen und nebenher nach »Schwäbisch« lernen. Mein Wille war

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