Große und kleine Welt (German Edition)
ergriffen hatte, und ihm die Augen inbezug auf den Charakter und das Leben der beiden Frauen oeffnete. Sie hatten also gewartet, bis das Bild beendet und uebergeben war, ehe sie ihm die Boerse raubten!?…
Der Diebstahl erschien noch haesslicher, indem er sich als ein berechneter herausstellte. Der Maler erinnerte sich zu seinem Kummer, dass Adelaide schon seit zwei oder drei Abenden mit maedchenhafter Neugierde die kunstreiche Filetarbeit der abgenutzten seidenen Boerse betrachtet habe; allein wahrscheinlich nur, um sich zu ueberzeugen, wieviel Geld in dem Beutel enthalten sei. Die anscheinend unschuldigen Scherze, die sie dabei machte, bezweckten wahrscheinlich nur, den Augenblick zu erspaehen, wo die Summe gross genug sein wuerde, um eines Diebstahls wert zu sein.—"Der alte Admiral hat vielleicht seine guten Gruende, Adelaide nicht zu heiraten, und die Baronin wird daher versucht haben, mich…." Er wollte eine Vermutung aussprechen, unterbrach sich aber und vollendete seinen Gedanken nicht, da derselbe zudem durch eine ganz richtige Betrachtung widerlegt wurde. "Wenn die Baronin," dachte er naemlich, "mich mit ihrer Tochter haette verheiraten wollen, so wuerde man mich nicht bestohlen haben…." Um nicht ganz aus seinen Illusionen gerissen zu werden, versuchte dann seine Liebe, die bereits so tief eingewurzelt war, in einem Zufall irgend eine Rechtfertigung zu finden. "Meine Boerse kann auf die Erde gefallen sein," dachte er, "sie kann vielleicht auf meinem Stuhle liegen geblieben sein. Ich habe sie vielleicht in meiner Zerstreuung in die Tasche gestickt…." Und er durchsuchte hastig alle seine Taschen, fand aber nirgends die verwuenschte Boerse. Sein grausames Gedaechtnis bestaetigte ihm nur die betruebende Wahrheit. Er sah deutlich seine Boerse auf dem Tische liegen, zweifelte nicht mehr an dem Diebstahl, entschuldigte aber dennoch Adelaide, indem er dachte, dass man Unglueckliche nicht zu schnell richten duerfe, dass ohne Zweifel irgend ein Geheimnis dieser dem Anschein nach ehrlosen Handlung zugrunde liege. Es wollte ihm nicht in den Sinn, dass ein so edles und stolzes Antlitz Luege sein koenne. Dennoch erschien ihm jetzt die armselige Wohnung als vollkommen entbloesst von der Poesie der Liebe, die alles verschoenert; er sah sie jetzt schmutzig, verwohnt, und betrachtete sie als die Darstellung eines Lebens ohne Adel, ohne edle Handlungen, denn unsere Gefuehle sind gewissermassen den Dingen aufgepraegt, die uns umgeben.
Am folgenden Morgen erhob er sich, ohne geschlafen zu haben. Der Schmerz seines Herzens, diese schwere moralische Krankheit, hatte furchtbare Fortschritte bei ihm gemacht. Ein getraeumtes Glueck zu verlieren, einer ganzen Zukunft zu entsagen, dies ist ein Leiden, bitterer als jedes andere, das durch den Untergang eines genossenen Gluecks veranlasst wird, wie vollkommen dasselbe auch sein mochte. Die Gedanken, denen sich dann ploetzlich unser Geist ueberlaesst, gleichen einem Meer ohne Ufer, in dem unsere Liebe sich zwar einen Augenblick schwimmend erhalten kann, aber dennoch endlich untergehen und ertrinken muss. Das ist ein schrecklicher Tod: sind nicht die Gefuehle der glaenzendste Teil unseres Lebens? Aus diesem teilweisen Tode entspringen bei gewissen zarten oder starken Konstitutionen die grossen Verheerungen, die durch die Entzauberung durch getaeuschte Hoffnungen und Leidenschaften hervorgebracht werden.
So ging es Hippolyt. Am fruehen Morgen ging er aus und wandelte in dem kuehlen Schatten der Tuilerien, waehrend er in seine Gedanken versank und alles in der Welt vergass. Ein Zufall, der gar nichts Ungewoehnliches hatte, liess ihn einen seiner vertrautesten Freunde treffen, der auf dem Kollegium und in der Malschule sein Kamerad gewesen war, mit dem er vertrauter gelebt hatte, als man mit einem Bruder zu leben pflegt. "Was fehlt Dir?" fragte Daniel Vallier, ein junger Bildhauer, der kuerzlich den ersten Preis erlangt hatte und naechstens nach Italien reisen sollte. "Ich bin sehr ungluecklich …" antwortete Hippolyt ernst.
"Nur eine Herzensangelegenheit kann Dich so sehr bekuemmern, denn an Geld, Ruhm und Ansehen fehlt es Dir nicht." Allmaehlich entspann sich ein vertrautes Gespraech, und der Maler gestand seine Liebe. Als Hippolyt von der Rue de Suresne und von einem jungen Maedchen erzaehlte, das in einem vierten Stock wohnte, da rief Daniel mit ungewoehnlicher Heiterkeit aus: "Halt! das ist das junge Maedchen, das ich jeden Morgen in der Assomption sehe und dem ich den Hof
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