Große und kleine Welt (German Edition)
mache. Aber, mein Lieber, die kennen wir alle! Ihre Mutter ist eine Baronin! Glaubst Du denn an Baroninnen, die im vierten Stock wohnen?… Brr!… Du bist ein guter Junge, der noch im goldenen Zeitalter lebt!… Wir sehen die alte Mutter alle Tage in dieser Allee; allein sie hat ein Antlitz und eine Haltung, die alles erraten lassen…. Wie! hast Du an der Art, wie sie ihren Strickbeutel haelt, nicht schon erkannt, was sie ist?"
Die beiden Freunde lustwandelten lange Zeit, und mehrere junge Maenner, die entweder Daniel oder Hippolyt kannten, gesellten sich zu ihnen. Der Bildhauer erzaehlte ihnen das Abenteuer des Malers, weil er es fuer sehr unwichtig hielt. Nun wurden Bemerkungen vorgebracht, Spoetteleien wurden unschuldig und mit der ganzen Heiterkeit, die Kuenstlern eigen ist, zum besten gegeben. Hippolyt litt furchtbar darunter. Er schaemte sich, als er das Geheimnis seines Herzens so leichtsinnig behandelt, seine Liebe in Fetzen zerrissen sah, als er hoerte, dass man ein junges unbekanntes Maedchen, dessen Leben ihm so bescheiden geschienen hatte, den ruecksichtslosesten Beurteilungen unterwarf, mochten dieselben richtig sein oder falsch. Aus einem Gefuehl des Widerspruchs verlangte er ernstlich von einem jeden Beweis fuer seine Behauptungen; doch gab dies nur Anlass zu neuen Spoettereien.
"Aber, mein lieber, hast Du den Shawl der Baronin gesehen?" fragte einer.
"Hast Du die Kleine gesehen, wenn sie des Morgens nach der Assomption geht?" fragte ein anderer.
"Die Mutter besitzt unter anderen Tugenden auch ein gewisses graues
Kleid, das ich als einen Typus betrachte."
"Hoere, Hippolyt …" sagte ein Kupferstecher, "komm um vier Uhr hierher und beobachte ein wenig den Gang der Mutter und der Tochter…. Wenn Du dann noch Zweifel hast … nun, dann wird im Leben nichts aus Dir…. Du waerest faehig, die Tochter Deiner Tuersteherin zu heiraten."
Hippolyt wurde von den widerstreitendsten Gefuehlen ergriffen und verliess seine Freunde. Adelaide erschien ihm ueber alle Anklagen erhaben, und er empfand im Innersten seines Herzens eine gewisse Reue, dass er an der Reinheit eines so schoenen und einfachen jungen Maedchens gezweifelt habe. Er kehrte nach seiner Werkstatt zurueck, ging an der Tuer vor Adelaides Wohnung vorueber und fuehlte einen inneren Schmerz, hinsichtlich dessen sich kein Mann taeuscht. Er liebte Fraeulein von Rouville leidenschaftlich und betete sie selbst jetzt noch an, ungeachtet des Diebstahls seiner Boerse. Seine Liebe war wie die des Chevaliers Desgrieux, der seine Geliebte selbst auf dem Karren, der die verlorenen Weiber in das Gefaengnis faehrt, noch bewunderte und fuer rein hielt. "Warum sollte sie nicht durch meine Liebe das reinste von allen weiblichen Wesen werden!… Warum sollte ich sie dem Unglueck und dem Laster ueberlassen, ohne ihr eine freundschaftliche Hand zu reichen!?…" Diese Aufgabe gefiel ihm, denn die Liebe weiss alles zu benutzen, und nichts lockt einen jungen Mann mehr, als die Aussicht, bei einem jungen Maedchen die Rolle eines guten Engels spielen zu koennen. Es liegt etwas Romantisches in diesem Unternehmen, das empfindsamen Seelen so sehr gefaellt. Es ist Aufopferung in ihrer erhabensten und anmutigsten Form; es liegt soviel geistige Groesse darin, sich bewusst zu sein, dass man hinreichend liebt, um selbst da noch zu lieben, wo bei anderen die Liebe erlischt und stirbt!
Hippolyt begab sich in seine Werkstaette und betrachtete seine Gemaelde, ohne daran zu arbeiten; er erblickte die Gestalten nur durch die Traenen, die ihm in die Augen traten, hielt fortwaehrend seinen Pinsel in der Hand und naeherte sich der Leinwand, beruehrte sie aber nicht. Die Nacht ueberraschte ihn in seinen Traeumereien; er eilte die Treppe hinab, begegnete dem alten Admiral, warf ihm einen finsteren Blick zu, waehrend er ihn begruesste, und eilte hinweg. Es war seine Absicht gewesen, bei seinen Nachbarinnen einzutreten, aber der Anblick von Adelaides Goenner liess ihm das Herz erstarren und ihn seinen Entschluss aufgeben. Er fragte sich zum hundertsten Male, was den alten reichen Mann, der fuenfzigtausend Livres Renten hatte, so unwiderstehlich in jenen vierten Stock ziehe, wo er alle Abende zehn bis zwanzig Franken verlor, und er erriet seinen Zweck.
An den folgenden Tagen widmete sich Hippolyt mit allem Eifer seinen Arbeiten, um durch diese und durch die Ablenkung seiner Phantasie auf einen anderen Gegenstand seine Leidenschaft zu bekaempfen. Seine Absicht gelang ihm zur Haelfte; die
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