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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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ebenso viele
     Hügel, und auf einmal war die Eisenbahnlinie wieder da. Zuerst sah man die Telegrafenstangen und dann die Schienen, und dann
     verschwanden alle diese Dinge in einem tiefen Bahndurchstich.
    Das Auto hatte es nicht so bequem wie die Eisenbahn; es musste einen steilen Berg hinauffahren, und oben stand eine Festung.
     Es war aber keine Festung, sondern ein Wohnhaus, um das sich der Besitzer eine Mauer mit einem Wehrgang und mit richtigen
     Schießscharten gebaut hatte. Von hier aus sah man die Stadt Kalgan und den Bahnhof mit den vielen leeren Gleisen, auf denen
     kein einziger Wagen stand.
    Auf dem Bahnhofsplatz machte Glück halt. »Aussteigen!«, rief er, »wir wollen etwas essen. Habt ihr Hunger?«
    »Wir haben Hunger, befehlender Herr.«

Neuntes Kapitel, von dem Mann, der in das Waschfass spuckte
    »Kommt her«, sagte Glück, »ich will euch einem Herrn vorstellen, den ich von der Straße aufgelesen habe, weil man einander
     helfen muss. Der Herr wird ein Stück Wegs mit uns fahren.« »Es ist eine Ehre für uns«, sprach Großer-Tiger, und er trat Christian
     zum besseren Verständnis, und damit er sich nichts anmerken lasse, auf die Zehen.
    Der Fremde saß auf dem Trittbrett des Wagens und rührte sich nicht. Sein schwarzer Bart hing traurig über die Mundwinkel,
     und die gestickte Mütze saß tief in der Stirn. Er blickte finster. Statt des schönen schwarzseidenen Rocks trug er einen abgeschabten
     grünen Mantel mit einer roten Schärpe.
    »Los!«, sagte Glück, »stellt euch nur selber vor; es braucht nicht sehr förmlich zu sein.«
    »Mein geringer Name ist Kompass-Berg«, begann Christian, und er verneigte sich.
    »Ich wage nicht, meinen Namen dem Herrn zu nennen. Ich heiße Großer-Tiger.«
    »Schon recht«, knurrte der Fremde und nickte leicht mit dem Kopf.
    »Erlaube«, sprach Glück, »ich möchte den Knaben sagen, dass du der früher geborene Herr Grünmantel bist.«
    Damit wäre die Vorstellung beendet gewesen, allein Großer-Tiger hielt Christian am Rockzipfel fest. Beide verneigten sich
     noch einmal, während Großer-Tiger einen sehr schönen Satz sagte:
    »Unser langes Ausschauen nach Eurem Anblick ist endlich gestillt.«
    Als Großer-Tiger so gesprochen hatte, lachte der Mann, der Grünmantel hieß. Man wusste aber nicht, ob er es höflich meinte,
     oder ob es ihn lächerlich dünkte, dass ein Knabe so formvollendete Reden führte. Er stand auf, ging zum Bahnhofsgebäude und
     setzte sich mit dem Rücken gegen die Mauer in die Sonne. Nirgends war ein Bahnbeamter, es war überhaupt kein Mensch da, und
     der Bahnhof sah traurig aus. Von der Fassade war der Kalkbewurf heruntergefallen, es gab Löcher, wo Gewehrkugeln eingeschlagen
     hatten, die meisten Fensterscheiben waren entzwei, und abgerissene Telefondrähte hingen von einem eisernen Träger bis auf
     die Straße.
    »Es gibt keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger, und er dachte an Peking, wo jetzt der Krieg war. Glück rumorte im Führerhaus des
     Wagens. Er hatte den Deckel von den Sitzen genommen und kramte in den Vorräten. Schließlich brachte er in einem Korb Brot,
     getrocknete Feigen und Bohnenkäse. Alle setzten sichneben Grünmantel an die Bahnhofsmauer, und Christian und Großer-Tiger zogen ihre Pelzmäntel aus, denn die Sonne schien warm.
    Es war nicht schlecht, auf Reisen zu sein, fremde Städte zu sehen und dabei gut zu essen.
    Grünmantel schien in Kalgan bekannt zu sein. Ein Mann, dem man ansah, dass er ein Kameltreiber sein müsse, ging vorüber und
     grüßte höflich. Grünmantel nickte herablassend; er knurrte etwas in seinen Bart, das sich wie »Alter Hung-Hu-Tse« anhörte.
    Ich muss mir das Wort merken, dachte Christian, später werde ich Großer-Tiger fragen, was es damit auf sich hat. Er aß Bohnenkäse
     und Brot und schaute auf den Bahnhofsplatz. In einiger Entfernung hatten sich drei Bettelbuben aufgestellt, aber sie wagten
     nicht näher zu kommen, obwohl sie auch gerne etwas gegessen hätten.
    »Lausevolk«, knurrte Grünmantel; doch dann winkte er dem größten der Betteljungen, der erbärmlich verhungert aussah. Er mochte
     vierzehn Jahre alt sein, aber genauso gut hätte er älter oder auch jünger sein können. Sein Gesicht war grau von Staub und
     Schmutz, die Kleider waren Fetzen, und als er demütig geschlichen kam, hörte man kaum, wie er murmelte: »Großer alter Onkel,
     was befehlt Ihr?«
    »Bring eine Kanne heißes Wasser für den Tee«, befahl Grünmantel.
    »Großer Onkel, ich habe keine

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