Großer-Tiger und Christian
man mit dem Essnapf
schöpfen konnte, ohne den Grund aufzurühren. Die Tropfen fielen Christian ins Genick. Entlang dem Wasserlauf hatten sich die
Kamele verteilt, und Christian bemerkte am Sinken des Spiegels, dass sie dabei waren, ihn auszusaufen.
»Halte sie fest«, rief er Großer-Tiger zu.
Da hielt Großer-Tiger die Kamele zurück, bis das Fass voll war. »Wozu die Eile«, fragte Christian, »verstehst du das? Wir
haben ja noch drei Stunden?«
»Drei Stunden bis was?«, erkundigte sich Großer-Tiger.
»Ich weiß es auch nicht«, bekannte Christian, »irgendetwas Schreckliches muss im Gange sein.«
»Es gibt keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger und blickte zum Himmel empor, wo sich die weißen Wolkenbögen unmerklich näherten.
Die Adler zogen ihre Kreise ohne Schwingenschlag aus lauter Lust am Fliegen.
»Die Sonne scheint sehr stark«, sagte Christian, als er das Fässchen vor Ungemach auf den Boden setzte.
»Gibt es am Ende ein Gewitter?«
Ungemach blickte auf. Er war mit Feuer machen beschäftigt, und das war keine kleine Sache, denn er hatte nur trockenen Kamel-
und Pferdedung, den er zu einem hübschen Mäuerchen innerhalb des Eisengestells schichtete. Zum Anzünden benützte er ein Büschel
Derresgras. Zuerst qualmte und stank es ein bisschen, aber nachher brannte ein Feuer mit sanfter Flamme, dem man anmerkte,
dass es von Dauer sein würde. Da setzte Ungemach den Kessel auf, und während er sich daran machte, Bohnennudeln zu brechen
und ins Wasser zu werfen, sagte er: »Wie ich gehört habe, sagtest du was?«
»Ich erwarte ein Gewitter«, gab Christian bekannt, »die Sonne scheint so stark.«
»Im Herbst ist das schönste Wetter«, erklärte Ungemach, »nicht jetzt.«
»Zählen Gewitter zum schönen Wetter?«, fragte Christian.
»Sie zählen zum Regen«, belehrte ihn Ungemach, »aber Regen fällt erst im Schafsmond.«
»Und jetzt«, fragte Christian, »was fällt jetzt?«
»Sand!«, sagte Ungemach und hob den Zeigefinger den beiden Wolkenbögen entgegen. »Meinen herzlichen Glückwunsch zu zwei bis
drei Tagen Schlummer. Ich wünsche Bequemlichkeit und Ruhe.«
»Zehntausendfachen Dank«, sagte Christian, und dann ging er zu Großer-Tiger, der den Kamelen die Stricke lose um den Hals
band, wie Siebenstern es ihm gelehrt hatte.
»Wir kriegen einen Sandsturm«, teilte Christian mit, »Ungemach sagt, es dauert zwei oder drei Tage.«
»Wozu die Aufregung?«, fragte Großer-Tiger, und er dachte an die Staubstürme, die im Frühjahr über Peking brausten. Sie kamen
aus der Wüste Gobi, wie die Leute sagten, und man ging nach Hause, verklebte die Papierfenster, wo sie schadhaft waren, und
mehr geschah nicht. Dann aber fiel Großer-Tiger ein, was Glück über Sandstürme gesagt hatte, und er erschrak. Er sagte: »Wenn
wir hier drei Tage aufgehalten werden, wie sollen wir da am vierten Tag des dritten Monds in Möng-Schui sein!«
»Herr Ma wird auch liegen bleiben müssen«, tröstete Christian.
»Er wird die versäumte Zeit einholen«, gab Großer-Tiger zu bedenken, »aber wir können nicht zu Glück sagen: ›Von jetzt an
müssen wir jeden Tag drei Stunden länger marschieren, weil wir eine Verabredung haben.‹«
Christian kratzte sich den Kopf, und er sagte leise: »Darüber müssen wir nachdenken.«
»Jetzt geht es nicht«, sagte Großer-Tiger, denn er sah Glück durch das Derresgras stapfen.
»Kwai! Kwai!«, rief Glück, »seid ihr fertig mit Tränken und Wasserschöpfen?«
»Wir sind fertig damit«, sagten Großer-Tiger und Christian.
»Sammelt Argal«, befahl Glück, »der Himmel spendet uns nur noch kurze Zeit.«
Da gingen Christian und Großer-Tiger kreuz und quer durch das Felsental, und wo sie ein Stückchen trockenen Dung fanden, hoben
sie es auf und trugen es zu Ungemach ins Zelt neben der Feuerstelle. Von den Mehlbeerbäumchen brachen sie verdorrte Äste ab.
Gontschuk ritt durch das Gras und trieb die Pferde vor sich her, doch der Hengst war nicht dabei.
»Sollen wir die Kamele auch eintreiben?«, fragte Christian.
»Nicht nötig«, sagte Gontschuk, »die Kamele sind vernünftiger als die Pferde, sie laufen nicht fort, sie legen sich.«
»Essen, essen!«, rief Ungemach aus dem Zelt. »He, Glück! Kwai, kwai!«
»Ich bin schon da«, rief Glück, aber er kam erst, als seiner Meinung nach alles zum Besten geordnet war. Er schlug die Zeltwand
zurück, so dass man einen freien Ausblick auf die Derreswiese hatte. Man sah die Kamele weiden, und man
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