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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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mit uns beiden im Zelt. Vor vielen Jahren«, begann Dampignak, »hatten wir
     eine Reise zu dritt gemacht, und wir lagerten beim Brunnen Guch-Tologoi, als Nicht-gibt-es-nicht des Weges kam. ›Dieser Mensch
     ist mir bekannt‹, sagte ich, und wir versteckten unsere Gewehre. Donnerkeil und ich trugen das Lamagewand, und zu Mondschein
     sagte ich: ›Du bist unser Diener.‹ Nicht-gibt-es-nicht trat ins Zelt, und er erkannte mich nicht, denn es waren mehr als zehn
     Jahre vergangen,seit wir uns gesehen hatten. Damals war ich ein Fürst und kein Lama, und ich trug keinen Bart. Es dauerte nicht lange, da
     zeigte uns Nicht-gibt-es-nicht ein Bündel Bambusstäbe und wollte wissen, was darauf geschrieben stehe. Donnerkeil, der weder
     lesen noch schreiben kann, zog die Augenbrauen dicht zusammen und tat sehr gelehrt. Dann gab er mir die Stäbchen, und ich
     sah, was es war. Ich ordnete sie, und ich las den Bericht von Edsina, und als ich alles wusste, sagte ich zu Nichtgibt-es-nicht:
     ›Es sind die Schriftzeichen der alten Zeit, und ich verstehe sie nicht. Sogar der würdige Lama, der neben mir sitzt, weiß
     sie nicht zu deuten.‹ Da bedankte sich Nicht-gibt-esnicht und zog weiter. Ich aber schrieb mir den Weg zu dem Kleinen und
     zu dem Großen-Heil auf, damit ich ihn nicht vergäße für den Fall, dass ich eines Tages Reichtümer notwendig brauchte.«
    »Aber wenn ein anderer sie geholt hätte?«, fragte Christian.
    Der Uralte-Herr lächelte wieder: »Keiner hätte das vermocht«, sagte er, »meine Leute sind überall. Oft ritt ich allein nach
     Edsina, und ich prüfte den Stein mit dem Schachbrett, und stets lag er unberührt unter der Scherbendecke, bis ihr kamt. Ich
     stand auch auf dem Brunnenschacht, in dem das Große-Heil verborgen liegt bis zur Stunde der Wiederkehr, und ich fühlte die
     Macht und die Schwere des Goldes. Seit dem Tod von Nichtgibt-es-nicht wusste ich freilich nicht, ob einer lebt, der das Geheimnis
     mit mir teilt.«
    Ich kann es nicht sagen, dachte Christian, aber warum hat er Nicht-gibt-es-nicht die Stäbe nicht einfach weggenommen, ein
     Räuber, der er ist?
    »Vielleicht«, fuhr Dampignak fort, »denkt einer von euch ich hätte mir die Mühe sparen und die Stäbchen rauben können. Es
     wäre einfacher gewesen, nicht wahr, Kompass-Berg?«
    Christian wurde rot. Alle mussten es sehen, obschon es im Zelt nicht sehr hell war, und Christian schämte sich und senkte
     den Kopf.
    »Es gibt keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger tapfer, »auch ich denke, dass Wegnehmen einfacher gewesen wäre.«
    Dampignak streifte Mondschein mit einem Blick, und Mondscheinnickte und murmelte etwas, das »Bravo« oder »Hoppla« heißen konnte. Jedenfalls war es etwas Anerkennendes.
    »Ihr seid aufrichtig«, sagte Dampignak, »jedem anderen hätte ich ohne Bedenken die Bambusstäbe weggenommen, denn ein Räuber
     hat andere Grundsätze als ein Provinzstatthalter. Allein die Dankbarkeit ist eine Tugend, über die es auch bei Räubern weder
     Rede noch Gegenrede gibt. Sie ist selbstverständlich. Als ich Nicht-gibt-es-nicht zum ersten Mal traf, war ich kein Lama,
     und ich war auch kein Räuber. Ich war jung an Jahren und bartlos, aber ich war verzweifelt. Ich saß im Zelt eines Heiligen
     am Gelben-Hügelriss, und ich wollte gehen, denn die Welt war finster für mich. ›Warte eine Stunde‹, sprach der heilige Mann,
     ›ich will dich nicht ohne eine Gabe ziehen lassen. Weil ich aber nichts besitze, musst du bleiben, bis einer kommt und mir
     etwas schenkt.‹ Eine Stunde verging, da kam ein fröhlicher Mensch auf einem Kamel, und dieser Mensch war Nicht-gibt-es-nicht.
     Er brachte drei Blätter des heiligen Baumes, der im Kloster der hunderttausend Bilder wächst, und eines der Blätter erhielt
     ich zum Geschenk. Deshalb«, sagte Dampignak, »griff ich nicht nach dem Schatz von Edsina, obwohl er mein war. Wenn die Stunde
     kommt, werde ich Naidang davon geben, so viel er haben will, denn das Andenken von Nicht-gibt-es-nicht ist mir teuer. Das
     Blatt besitze ich heute noch.« – Er griff in die Falte des Gewands und holte ein dünnes Heft heraus, das zwischen zwei Holzplättchen
     gepresst war. Eine rote Seidenschnur war kreuzweis darum geschlungen und verknotet.
    »Nicht öffnen«, rief Großer-Tiger ängstlich, »Nicht-gibt-es-nicht musste sterben, als er das Blatt in den Nachtwind warf,
     und   …«
    »Und?«, fragte Dampignak.
    »Nicht öffnen«, bat Großer-Tiger noch einmal und hob flehend die Hände.
    Da

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