Großer-Tiger und Christian
»Juchi soll kommen und Sanienbeier auch.«
Beide traten aus dem Zelt, und Dampignak sagte: »Juchi, wir hörten gestern Abend deine Rede. Wie lange bist du bei uns?«
»Ich diene Euch sechzehn Jahre.«
»Gib dein Gewehr Sanienbeier, nimm ein Kamel und so viel Fleisch, wie dir zusteht, und reite weit fort. Wir möchten dir nie
mehr begegnen, Juchi!«
»Es wäre nicht gut für dich«, setzte Mondschein hinzu.
Juchi blieb stumm und Sanienbeier auch. Als der Uralte-Herr aufs Pferd stieg, grüßten sie ihn mit dem Fußfall der Verehrung.
Da saß auch Mondschein auf und nach ihm Großer-Tiger und Christian. Die Ledersäcke hingen an den Sattelringen, die Felle lagen
zweifach über den Sätteln; nichts war vergessen. Nur die Pferde waren andere. Sie waren etwas größer, sie warfen die Köpfe,
aber keines war aufgeregt, nicht einmal, als Christian aufstieg.
Sämbilik rief: »Sä Jabonah!« Doch es war keine Fröhlichkeit dabei.
Sie ritten, und die Zelte am Verdeckten-Brunnen blieben zurück. Zum ersten Mal hatten Großer-Tiger und Christian das bedrückende
Gefühl, Groll und Bitterkeit hinter sich zu lassen statt guter Wünsche und Zuneigung.
Es gibt keine Hilfe, dachte Christian, und Großer-Tiger sagte es laut. Allein das traurige Wort ging genauso verloren wie
der muntere Zuruf Sämbiliks. – Neumond war keine gute Zeit.
Die Pferde begannen zu traben. Eine Weile hörte man nur dumpfe Hufschläge, denn es ging am Fuß der Hügelwelle entlang, wo
ein feiner Flugsand in festen Schichten lag. Nachher gab es harten Kies, und die Pferde griffen aus. Im Osten lichtete sich
der Himmel.
Der Uralte-Herr ritt voraus, Mondschein begann zu singen, und Christian und Großer-Tiger kannten die Melodie. Sie spornten
ihre Pferde, bis sie Mondschein einholten und rechts und links neben ihm ritten.
»Der alte Märin hat uns auch von Dschusserä gesungen«, sagte Christian, als Mondschein zu Ende war.
»Ich wollte, er wäre hier«, seufzte Mondschein, »der alte Märin ist klug, und er hat das Ohr des Fürsten, weil er sein Freund
ist.«
»Gibt es was zu bedenken?«, fragte Großer-Tiger.
»Kann man darüber reden?«, fragte Christian.
»Juchi hat darüber geredet«, antwortete Mondschein, »ihr habt es gehört.«
»Die Sache scheint schwierig«, sagte Großer-Tiger, »es war nicht die richtige Zeit zu reden.«
»Der Fürst urteilte hart«, sagte Christian.
»Er urteilte weich«, widersprach Mondschein; »wenn ein Diener sich empört, liegen die Ursachen nicht zwischen Morgen und Abend
eines Tages. Juchi war nicht schlecht, aber jetzt wird er schlecht werden. Es mangelt ihm die Geduld, und Geduld ist die erste
Tugend, die ein Räuber braucht. Einen Räuber ohne Langmut sollte man töten.«
»Braucht ein Räuber Tugenden?«, fragte Christian verwundert.
»Er braucht sie mehr als andere Leute«, setzte Mondschein auseinander.»Niemals wird es einen großen Räuber geben, der nicht weiß, wo was zu holen ist. Das ist seine Eingebung. Er muss der Erste
im Kampf sein, das ist sein Mut; und er muss der Letzte beim Rückzug sein, das gebietet ihm sein Pflichtgefühl. Er muss die
Beute gerecht teilen, das ist seine Güte. Aber das Schwerste für einen Räuber ist, niemals das Unmögliche zu versuchen. Das
ist seine Weisheit. Ich wollte«, sagte Mondschein, »der alte Märin wäre noch unter uns.«
»War er das?«, fragte Christian.
»Du fragst, worauf es keine Antwort geben darf«, entgegnete Mondschein.
»Wir sind aber keine Verräter«, sagte Christian.
»Wir sind auch nicht neugierig«, sagte Großer-Tiger stolz.
»Entschuldigt«, bat Mondschein, »allein ihr wisst, dass das Leben eines Rotbarts schon gefährdet ist, wo Hundebellen aus dem
nächsten Ort gehört werden kann. Der alte Märin war kein Rotbart, aber er war zwei Jahre bei uns in der Burg.
Während dieser Zeit verließ er sie nie, und als er ging, war es Nacht. So hat ihn kein Mensch in unserer Gesellschaft gesehen,
und er konnte ruhig am Edsin-Gol leben. Durch ihn erhielten wir die erste Nachricht vom Nahen der Belagerungsarmee, und er
bewachte den Schatz von Edsina, von dem nur er und ich etwas weiß. Den Ort freilich, wo das Gold und die Edelsteine liegen,
kennt der Fürst allein. Jetzt«, sagte Mondschein, »gibt es außer ihm niemand mehr zwischen den vier Meeren, der das Große-Heil
zu finden vermöchte. Seht, vor euch reitet der reichste Mann der Erde.«
Die Sonne ging auf. Ihre Strahlenbündel weckten die
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