Großer-Tiger und Christian
und Christian deutete einfach in die Mitte zwischen Hsing-Hsing-Hsia
und dem Felsgebiet, »traf Dämbit mit Grünmantel zusammen.«
»Wo ist das Tal?«, fragte Großer-Tiger, weil er es genau wissen wollte. »Man kann es nicht sehen«, gab Christian zu, »aber
es wird schon da sein, denn Dämbit sprach von einer Kiesbank, in der der Wagen steckenblieb. Kiesbänke gibt es nur in Tälern.«
»Aha«, sagte Großer-Tiger, und im Stillen bewunderte er Christian, der sich so gut mit Tälern auskannte.
»Dämbit konnte nur langsam reiten«, fuhr Christian fort, »weil sein Kamel kraftlos war. Deshalb brauchte er drei Tage, bis
er hierher kam. Grünmantel war eine oder zwei Stunden später in Fallende-Wand, also am Nachmittag.«
»Das war vorgestern«, sagte Großer-Tiger.
»Das ist es eben«, erwiderte Christian betrübt, »was macht er so lange dort? – Für übermorgen ist er mit Ma verabredet, dazwischen
bleiben fünf Tage. Was tut Grünmantel an dem Ort Fallende-Wand?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich weiß es auch nicht.«
»Da wir es beide nicht wissen«, sagte Großer-Tiger, »ist auch nicht alles klar.«
Christian gab es zu, und Großer-Tiger fragte, wie weit es, von Fallende-Wand bis Möng-Schui wäre.
»Vielleicht siebzig Li«, schätzte Christian, »es können auch achtzig sein. Ein Kamel braucht einen Tag, ein Pferd einen halben
und ein Auto zwei Stunden. Es kommt auf den Weg an.«
»Es gibt keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger, »immer ist etwas, was man nicht weiß.«
»Vielleicht kriegen wir es heraus«, tröstete Christian, aber obgleich er sich anstrengte und obgleich Großer-Tiger sagte:
»Am Ende ruht sich Grünmantel bloß ein bisschen aus«, schien es ihnen unwahrscheinlich, dass er fünf Tage dazu brauchen würde.
Als Mondschein »Essen essen!«, rief und »Wo steckt ihr Heldensöhne?«, gaben sie das Nachdenken auf. Sie gingen zum Zelt zurück,
aber Christian, dem unterwegs eine neue Frage eingefallen war, konnte es kaum erwarten, bis die Mahlzeit vorüber war. Dämbit,
der wenig aß, weil er zu lange gefastet hatte, erzählte von seiner Wallfahrt. Über ein halbes Jahr war er in derGötterburg Lhasa gewesen. Er sprach mit Hingebung von der Pracht, die er gesehen hatte, und von der wilden unzugänglichen
Bergwelt, in der die eingemauerten Einsiedler hausten. Von der eigenen Mühsal sprach er kein Wort, sie stand in seinem Gesicht
geschrieben. Alle hörten zu, und Mondschein sagte hin und wieder »Kaum zu glauben« oder sonst etwas Passendes. Bevor er aber
»Schlafen, gut schlafen« sagen konnte, platzte Christian heraus: »Ich erlaube mir zu fragen, wie es an dem Ort Fallende-Wand
aussieht. Ich bitte um Vergebung meiner Unwissenheit«, fügte er hinzu, als er merkte, wie alle verstummten.
»Ich war noch nie dort«, sagte Dämbit, »aber der Herr Hauptmann wird es wissen. Fallende-Wand liegt im Grenzgebiet.«
»Wir sind erst seit kurzem hier«, entschuldigte Mondschein geschwind, »denn eigentlich gehören wir zur Leibwache des alten
Gebieters in der Hauptstadt. Ich sprach schon davon, und ich glaube, wir sollten jetzt schlafen.«
»Schlafen, gut schlafen«, wünschte Dampignak, und damit war jedes Gespräch zu Ende.
»Schade«, flüsterte Christian Großer-Tiger ins Ohr, »jetzt wissen wir so wenig wie zuvor.«
»Die Anfangsschwierigkeit bewirkt Gelingen«, tröstete Großer-Tiger, »wer keine Beschränkung kennt, wird zu klagen haben.«
»Sobald wir daheim sind«, sagte Christian, »werde ich deinem Großvater einen Dankesbesuch abstatten; er weiß für alle Lebenslagen
das richtige Trostwort.«
»Du wirst sehen, dass er recht behält«, versicherte Großer-Tiger.
Da war Christian überzeugt, dass alles zum Besten stehe. Er dachte noch geschwind an den Pudel, und ob Donnerkeil auch für
ihn die richtigen Trostworte fände, und nebendran fing Dämbit an zu schnarchen.
Über das Zelt zogen die flammenden Sterne der Nacht. Es gab keinen Dunstschleier, alles war klar wie am Tag. Bis Mitternacht
strömte der Sand die Tageswärme aus, dann wurde es kalt.
Christian erwachte, als der Kamelmann kam und Feuer machte.Dampignak saß abwesend auf seinem Platz unter der Zeltstange, und die Kugeln der Gebetskette glitten über den quergestellten
Zeigefinger. Wahrscheinlich saß er schon lange so, vielleicht die halbe Nacht. Christian traute sich nicht, aufzustehen und
den Morgengruß »Gut geschlafen?« zu sagen. Er wartete lieber, bis Mondschein erwachte und
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