Großer-Tiger und Christian
gerichtet, wo der Wirt den Wagen mit Hand- und Armbewegungen einmal nach links dirigierte und dann wieder nach rechts, bald
zum Weiterfahren veranlasste oder zum Halten brachte.
»Du sollst dich nicht um den Wagen kümmern«, sagte Großer-Tiger.
Der Junge hörte nicht darauf, er grinste nur und fasste seinen Stock fester. Plötzlich fuhr er zusammen.
»Das Zeichen!«, murmelte er, »das Zeichen!«
Wie der Blitz wandte er sich um, riss sich den Fellkittel vom Leib und stieß Großer-Tiger, der ihm in den Weg treten wollte,
vor die Brust, dass er nach rückwärts in die dunkle Nische fiel und mit dem Kopf gegen den Altar des Tempels schlug. Die Holzwand
des Altars dröhnte, und der Kopf von Großer-Tiger dröhnte auch.
Mit zwei Sätzen sprang der Junge die Stufen des Tempels hinunter, wo Christian stand.
Das alles ging so geschwind, und der Junge hob den Stock so rasch, um Christian zu schlagen, dass er ihm auch richtig einen
tüchtigen Hieb versetzte. Doch im selben Augenblick stürzte er der Länge nach auf die Backsteinfliesen, denn Christian hatte
ihm flink ein Bein gestellt. Der Stock fiel ihm aus der Hand. Christian stieß ihn mit dem Fuß weg und warf sich auf den am
Boden Liegenden. Der schlug mit Armen und Beinen um sich, fauchte wie eine Katze und versuchte zu beißen. Vor allem wollte
er sich umdrehen, um Christian unter sich zu kriegen. Aber Christian kniete ihm auf die Schultern, krallte sich mit beiden
Händen in den Zopf fest und drückte so das Gesicht des andern auf die Fliesen.
Der Hütejunge bebte vor Zorn. Alle Glieder taten ihm weh von dem Sturz, die Knie waren aufgeschürft und bluteten, die Adern
pochten. Mit einer letzten Anstrengung riss er die Ellbogen ansich und warf, plötzlich emporschnellend, Christian über Schultern und Kopf vor sich auf den Boden.
Nicht loslassen! nicht loslassen! dachte Christian verzweifelt, aber es half nichts.
Der große Junge hatte jetzt die Hände frei, mit denen er dem vor ihm liegenden Christian sofort ins Gesicht fuhr. Christian
musste den Zopf loslassen, um sich zu wehren, doch schon war der andere über ihm, und grub ihm mit wildem Triumph die Fingernägel
in die Kopfhaut. Christian schrie.
Da flog ein Schatten über die Kämpfenden, etwas sauste durch die Luft, und dann schlug der Stock des Hirtenbuben ihm selbst
auf den Kopf. Da lag er nun.
Neben ihm stand schnaufend Großer-Tiger mit dem Stecken, und Christian richtete sich mühsam auf. Alle drei waren übel zugerichtet
mit Rissen in der Haut, aus denen Blut tropfte, mit Kratz- und Bisswunden und mit ausgerauften Haarbüscheln. Großer-Tiger
hatte eine dicke Beule an der Stirn.
»Hast du ihn ganz totgemacht?«, erkundigte sich Christian besorgt.
»Ich weiß es nicht genau; ein Stück Seele wird noch da sein.«
»Dann wollen wir ihm schnell die Füße fesseln, sonst springt er fort und zieht an der Vorrichtung, die das Wasser ableitet.«
»Hast du einen Strick?«
»Ich habe keinen. Der Drache hat alle Schnur mitgenommen.« »Aber er«, rief Großer-Tiger, »hat einen Lederriemen um den Bauch.«
»Das ist unfair«, sagte Christian.
»Was ist das?«, fragte Großer-Tiger
»Etwas«, erklärte Christian, »was man eigentlich nicht tun darf, ist unfair.«
»Wir müssen es aber tun«, entschied Großer-Tiger, »sonst schlägt er uns mit dem Knüppel tot. Er ist stärker als wir beide,
und er ist wild wie zehn Wölfe.«
Ohne einen weiteren Einwand abzuwarten, machte sich Großer-Tiger über den Hirtenbuben her, nahm ihm den Leibriemen, und Christian
ließ die Bedenken über fair und unfair fallen. Miteinander banden sie die Füße ihres bösen Gegners zusammen.
Sie waren kaum fertig damit, als der Junge zu sich kam. Er blickte wild um sich und wollte sofort aufspringen. Da warfen sich
Großer-Tiger und Christian auf ihn und rangen ihn mit vereinten Kräften nieder; und jeder setzte sich auf einen Arm des Besiegten.
»Ihr seid zehnmal zehn Feiglinge!«, schrie der Junge. »Lasst mich los, damit ich euch zu Brei zerstampfe!«
»Wir werden uns hüten, dich jemals wieder loszulassen«, sagte Christian.
»Wir würden sehr bedauern dich totschlagen zu müssen«, versicherte Großer-Tiger; »bleib lieber liegen, so ersparst du uns
viele Arbeit.«
»Ihr redet großtönende Worte«, sagte der Junge, »und ihr solltet euch schämen! Ich werde nicht mehr mit euch sprechen.«
Er schloss die Augen zum Zeichen, dass er es nicht der Mühe wert halte, Christian und
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