Großer-Tiger und Christian
Großer-Tiger länger anzusehen.
Großer-Tiger sagte: »Du wirst bald wieder reden. Der Wirt ›Zu den zwei silbernen Schüsselchen‹ wird kommen, und er wird dich
fragen, warum du seinen Befehl missachtest, und auch Grünmantel wird sehr zornig sein. Vielleicht kennst du ihn.«
»Was sagst du da?«, schrie der Junge und schlug die Augen schnell wieder auf. »Grünmantel ist da?«
»Er ist sehr nahe«, versicherte Christian.
»Er ist sehr übler Laune«, bemerkte Großer-Tiger.
»Das ist mir gleich«, rief der Junge hastig, »es gibt Schlimmeres; bitte lasst mich los!«
»Was unmöglich ist«, sagte Christian, »kann nicht geschehen«, ergänzte Großer-Tiger.
Jetzt verlegte sich der Hirtenjunge aufs Bitten. »Ich werde Frieden mit euch halten, bitte lasst mich gehen. Ich muss augenblicklich
fort, ich habe etwas Wichtiges zu tun.«
»Wir wissen, was du tun willst«, sagte Großer-Tiger.
»Du willst das Wasser über die Straße leiten«, sagte Christian.
»Nein!«, rief der Junge, und man sah, dass er mit den Tränen kämpfte; »ich muss woandershin. Lasst mich gehen, wenn ihr von
Schuld frei bleiben wollt.«
»Wir kennen dich nicht«, sagte Christian
»Du musst uns sagen, was du vorhast«, bestimmte Großer-Tiger.
»Das kann niemals geschehen.«
Der Junge begann zu weinen. Tränen rollten ihm über das Gesicht und vermengten sich mit dem Staub zu dicken Kugeln.
»Ich bin verloren, und Bators Vater ist auch verloren.«
»Wer ist Bator?«, fragte Großer-Tiger.
»Bator ist mein Freund.«
»Und wer bist du?«, fragte Christian
»Ich heiße Lo-Tjang … Doch wozu erzählen? … Es ist alles aus, und Grünmantel, dieser …«
»Dieser Schuft wolltest du sagen?«
»Ich habe kein halbes Wort sagen wollen.«
»So will ich«, erklärte Christian »dir sagen, was wir von Grünmantel halten: Hier ist Großer-Tiger, und ich bin Kompass-Berg.
Wir beide denken, dass Grünmantel ein ganz gemeiner Mensch ist. Er reist zwar mit uns, weil der Soldat Glück ihn mitgenommen
hat, aber er geht uns nichts an. Wir verachten ihn.« »Fahrt ihr mit dem Wagen, der von selber geht?«
»Wir fahren mit diesem Wagen.«
»Und Grünmantel«, rief Lo-Tjang voll Angst, »fährt er auch mit euch?«
»Ja«, sagte Christian, »das tut er, ich habe es schon vorhin gesagt.«
Lo-Tjang schluchzte von neuem. »Ich wusste es ja«, rief er verzweifelt, »wir sind alle verloren.«
Christian wechselte mit Großer-Tiger einen Blick, und dann sagte er: »Wir werden dich loslassen, wenn du versprichst, dass
du uns in Frieden lässt.«
»Bei deinem Gesicht«, fügte Großer-Tiger hinzu.
»Bei meinem Gesicht«, sagte Lo-Tjang.
»Du hast es gesagt«, sprach Christian feierlich, »steh also auf!«
Sie entfernten die Fußfessel, gaben ihm den Leibriemen zurück, und Lo-Tjang, der vorhin noch ungestüm und wild war, saß am
Boden und weinte.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragte Großer-Tiger.
»Es tut weh«, sagte Lo-Tjang, »aber das ist es nicht.«
»Was ist es denn?«, fragte Christian.
»Es ist nicht wegen mir«, sagte Lo-Tjang und wischte sich die Tränen fort, »es ist wegen Bators Vater, und wegen seines Gesichts,
und wegen der Kamele, und wegen allem, was ihr nicht verstehen könnt.«
»Vielleicht verstehen wir es, wenn du es sagst«, meinte Großer-Tiger.
»Es ist sogar wahrscheinlich, dass wir es verstehen«, sagte Christian.
»Es gibt keine Hilfe«, erklärte Lo-Tjang.
»Man muss darüber reden«, schlug Christian vor; »es ist mühsam, einen mächtigen Gegner zu überwinden, aber es ist nicht unmöglich.«
»Meinst du Grünmantel?«, fragte Lo-Tjang.
»Wen sonst!«, rief Christian.
Lo-Tjang wandte sich an Großer-Tiger. »Und du?«, fragte er.
»Kwi-Schan und ich meinen immer das gleiche, oder fast immer. Wir sind Freunde.«
Lo-Tjang zögerte noch. Von unten hörte man das Brummen des Motors lauter und das Geschrei des Wirts deutlicher. Man konnte
zwar nur einzelne Worte wie »fördernd«, … »Südosten«… oder »großes Heil« verstehen, aber es war klar: der Lastwagen machte Fortschritte. »Sprich«, drängte Christian.
»Rede, solange es Zeit ist«, mahnte Großer-Tiger.
»Ich bin aus Tsagan-Tscholo«, begann Lo-Tjang.
»Dort übernachten wir heute!«, rief Christian.
»Ich dachte es mir«, sagte Lo-Tjang, »weil Grünmantel dabei ist. Er übernachtet immer in Tsagan-Tscholo, denn er will Bators
Vater die Kamele wegnehmen.«
»Kann er das?«, fragte Christian.
»Er hat es
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