Großer-Tiger und Christian
Dampignak vor.
»Eure Herrlichkeit!«, wandte Kao-Scheng ein, »hier stehen meine Leute bis auf einen. Sie sind knapp dem Tode entronnen, da
setzt sich keiner gern.«
»Wo ist Kasim?«, fragte Dampignak.
»Das ist es ja eben«, rief Kao-Scheng, »er ist zu neun Zehnteln tot, vielleicht auch ganz.«
Dampignak begann die Filzschuhe auszuziehen. Er sagte: »Befehlt Euren Leuten, abzusatteln und ein Essen zu bereiten; Großer-Tiger,
Kompass-Berg und wir werden derweil nach Kasim schauen. Sind unsere Pferde da?«
»Sie sind hier«, sagte Großer-Tiger. Er stand abseits und hielt den Hengst am Zügel. Die andern Pferde hatte ihm Christian
abgenommen.
Kao-Scheng fragte nichts weiter. Er war starr, dass Dampignak sich nichts aus Erdbeben und stürzenden Felsen machte, aber
er war erleichtert, dass er wusste, was zu geschehen habe. Er wäre doch bloß in die Nacht hinausgeritten, ohne seinen Leuten
sagen zu können wohin. Also setzte er sich und zog die Stiefel aus. Dabei wurde er ruhiger. Er blieb auch sitzen, als Dampignak
aufstand, obwohl es unhöflich war.
»Recht so«, sagte Dampignak, »Ihr müsst Euren Männern ein Beispiel geben.«
Da schlich sich ein großer Stolz in Kao-Schengs Brust. Er begann zu befehlen, und seine Soldaten, die erst widerwillig murrten,
hörten bald auf damit. Sie sattelten ab, und sie beeilten sich sogar, dem Packpferd die Lasten abzunehmen.
Als Dampignak aufsaß, ging einer bereits mit dem Kochkessel zum Wasser, ein anderer stellte das eiserne Dreibein wieder aufs
Feuer, und Kao-Scheng erhob sich und wünschte Glück und langes Leben. Beinahe hätte er noch Reichtum hinzugefügt, aber es
schien ihm nicht passend. Christian hatte inzwischen den Reisesack mit dem Kästchen darin an die Sattelringe geschnallt, und
dann ritten sie hinter Dampignak her.
Als sie die Kiesrinne erreichten, die aus Fallende-Wand kam, hatte Christian Großer-Tiger alles erzählt, was es zu erzählen
gab: Grünmantel war tot, Schlangenfrühling lebte auch nicht mehr, und der Geschäftsführer war mit ihnen umgekommen.
Großer-Tiger nickte: »Wir haben uns hundert vergebliche Gedanken gemacht«, sagte er, »der Himmel hat sie zum Totsein verdammt.«
Christian wusste gut, was Großer-Tiger damit meinte. Grünmantel und die beiden andern waren fern der Heimat gestorben. Sie
hatten keinen Sarg und niemand, der sie mit frommen Gebeten und Opfern ehrte. Sie waren keine Ahnen. Sie waren tot.
Schweigend ritten Großer-Tiger und Christian das Kiesbett entlang, und als sie unter dem Hügel anlangten, auf dem Kasim lag,
hörten sie ihn rufen, und sie sahen, dass er winkte. Da winkten sie zurück.
Kasim kam den Hang herab. Kaum hörte man seine leisen Schritte, da stand er schon mitten in dem Geröllbett.
»Sallam«, rief Kasim und breitete beide Arme aus.
Christian und Großer-Tiger sprangen vom Pferd und liefen ihm zu, und der bärtige Türke grüßte sie mit fremden Worten wie Brüder,
und deshalb verstanden sie gut, was Kasim sagte. Großer-Tiger antwortete ihm chinesisch, und Christian sagte ihm auf Mongolisch,
wie sehr sie sich freuten, ihn lebend zu sehen. Miteinander gingen sie über die Kiesbank auf den festen Boden, wo Dampignak
abgestiegen war. Bevor Kasim etwas sagen konnte, begrüßte ihn der Uralte-Herr, und Kasim dankte mit bewegten Worten. Dann
wies er in die Schlucht. Dampignak schüttelte den Kopf. Er sagte: »Morgen früh bei Tagesanbruch werden wir betrachten, was
es gibt.«
»Ming-tien«, sagte Großer-Tiger in der Hoffnung, dass Kasim das Wort verstünde.
»Margatter«, wiederholte Christian.
»Inschallah«, antwortete der fromme, rechtgläubige Kasim.
Christian bot ihm sein Pferd an, und Kasim lächelte dankbar. Er sagte auch weiter nichts, aber er hob Christian empor und
setzte ihn vor sich in den Sattel. So ritten sie zu Kao-Scheng zurück. Von weitem sahen sie das Feuer, ein schwacher Schein
in der ungeheuren und leblosen Nacht.
Plötzlich richtete sich vor ihnen einer auf und brüllte: »Halt! Wer da?«
»Alter!«, antwortete Großer-Tiger.
»Ich dachte mir gleich«, rief Kao-Scheng, »dass ihr es seid.«
»Hauptmann«, erinnerte Christian, »Ihr müsst was anderes sagen. So ist es nicht richtig. Am Ende seid Ihr wer Fremder oder
gar ein Feind.«
»Ich bin kein Fremder; ihr seht ja, dass ich es bin.«
»Nachts gilt nur die Parole«, sagte Großer-Tiger, »das ist nun einmal so.«
»Richtig!«, rief Kao-Scheng, »ich wollte euch bloß auf
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