Großer-Tiger und Christian
Großer-Tiger ist ein Schriftgelehrter
hoher Grade. Er wird von allen Worten, die es gibt, zehn aussuchen, die dem alten Gebieter berichten, was er wissen muss.«
»Es darf aber nichts vergessen werden«, mahnte Kao-Scheng.
»Keine Sorge deswegen«, sagte Christian, »Ihr seht, Großer-Tiger denkt bereits nach.«
»Ruhe!«, befahl Kao-Scheng, und er blickte streng im Kreis umher, damit sich ja keiner erdreiste, Großer-Tiger im Nachdenken
zu stören. Alle waren sehr still und schauten zu, wie Großer-Tiger schrieb, und sie bewunderten ihn, wie schnell er mit so
etwas Schwierigem wie mit einem Blitzbrief fertig wurde.
»Ist das alles?«, fragte Kao-Scheng enttäuscht.
»Es sind genau zehn Worte«, sagte Großer-Tiger, »mehr gibt es nicht.«
»Lies bitte vor«, sagte Kao-Scheng, »du weißt, ich habe schwache Augen.«
Großer-Tiger räusperte sich ein wenig und las: »Kompass-Berg, Großer-Tiger und verlorener Silberschatz gefunden. Ankommen
Monatsmitte, Hauptmann Kao-Scheng.«
»Ich habe mitgezählt«, rief Mondschein, »nie hörte ich von einem Blitzbrief, der die hundert Abschnitte eines Geschehens in
zehn Worte fasste wie dieser.«
»Aber«, wandte Kao-Scheng ein, »wenn ihr früher ankommt. Was dann?«
»Desto besser«, sagte Mondschein, »dann ist der alte Gebieter überrascht.«
»Ich weiß nicht, ob er Überraschungen liebt«, meinte Kao-Scheng, »der alte Gebieter ist schon bei Jahren. Das Festessen wäre
nicht fertig und die Fahnen nicht aufgezogen.«
»Keine Besorgnis deswegen«, mischte sich Dampignak ein, »der alte Gebieter lässt sich nicht überraschen. Er wird alle Stationen
unterwegs anweisen, Nachricht zu geben, wo Kompass-Berg und Großer-Tiger eintreffen und wann sie weiterfahren. In seiner Provinz
lockert sich das vordere Wagenrad nicht, ohne dass es zuvor das hintere weiß.«
»Richtig!«, rief Kao-Scheng begeistert, »der Fürst hat recht. Das Reich des alten Gebieters ist sozusagen beispielhaft.«
In diesem Augenblick löste sich an der Felswand gegenüber ein Block und zerschellte in der Tiefe. Kao-Scheng erschrak fürchterlich.
»Habe ich zu laut gesprochen?«, flüsterte er.
»Du hast wie ein Ochse gebrüllt«, teilte ihm Mondschein mit. »Nimm dich in Acht! Heute Nacht hörte ich, wie es ist wenn Knochen
krachen.«
»Schauderhaft!«, sagte Kao-Scheng.
»Du hast wenig davon gesehen und gehört«, fuhr Mondschein fort, »lass dir erzählen, damit du es weißt. Zuerst kam ein Wind,
der die Berge versengte und mir den Hut vom Kopf hob. Dann …«, sagte Mondschein, und weil er merkte, dass er jetzt ins beste Fahrwasser kam, langte er die Pfeife aus dem Stiefelschaft.
Dampignak unterbrach ihn: »Pfötchen«, sagte er und erhob sich, »es ist nicht die richtige Zeit zum Erzählen. Wir reiten.«
»Schon?«, rief Kao-Scheng bestürzt. »Ich hoffte, die Gegenwart Eurer Herrlichkeit würde unser Fest verschönen.«
Mondschein schob die Pfeife wieder an ihren Platz. »Hauptmann Kao-Scheng«, sagte er, »es war mir eine Ehre. Wenn wir uns wieder
einmal an der Grenze treffen, erzähle ich dir den Rest. Es muss ja nicht gleich sein. Solche Geschichten werdenmit der Zeit mannigfaltiger in den Vorkommnissen und prächtiger in den Ereignissen.«
»Sie werden sozusagen immer erzählenswerter«, pflichtete Kao-Scheng bei.
»Bravo«, rief Mondschein, »wir verstehen uns.«
Er stand auf und ging zu den Pferden. Kao-Scheng und seine Leute halfen ihm beim Satteln, und Christian und Großer-Tiger traten
vor Dampignak.
»Gestattet, dass wir Euch ein Stück begleiten«, bat Christian.
»Wir bitten, uns diese Auszeichnung zu gewähren«, sagte Großer-Tiger.
»Reitet mit uns bis zu dem Platz, wo wir gestern den Aufstieg begannen«, sagte Dampignak, »dort wollen wir Abschied nehmen.«
»Wir danken«, sagten Christian und Großer-Tiger, und sie eilten zu den Pferden.
»In allen Zelten wird man von unsern Taten reden«, rief Kao-Scheng, als Dampignak in den Sattel stieg. Die Männer drängten
sich herbei, und jeder sagte seinen bescheidenen Glückwunsch für gute Reise. Christian und Großer-Tiger verstanden nicht,
was sie sagten, und Dampignak grüßte mit dem Daschior. »Ich habe vergessen«, rief Kao-Scheng, »Eurer Herrlichkeit mitzuteilen,
dass in der Hauptstadt ein Regierungsblatt gedruckt wird. In wenigen Wochen werden die Gebildeten aller Völker erfahren, wie
glanzvoll der Sieg der Gerechtigkeit in Fallende-Wand errungen wurde.«
»Schicke mir
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