Großstadt-Dschungel
Er saß immer am Tisch gegenüber. Eines Tages schob er mir einen Zettel in mein Kinderpsychologie-Arbeitsbuch.“
„Warum denn Kinderpsychologie? Um die Männer besser verstehen zu können?“
„Nein, um Kinder verstehen zu können.“
„Leuchtet ein.“
„Egal, auf dem Zettel stand: ‚Hallo, hast du Lust, eine Pause zu machen und mit mir zu Abend zu essen?‘ Natürlich habe ich Ja gesagt und …“
„Hast du ‚Ja‘ zurückgeschrieben, oder hast du es ihm gesagt?“
„Ich habe es ihm gesagt.“
„Woher hast du gewusst, dass er es war?“
„Weil er in der Bibliothek an dem Tisch mir gegenüber saß.“
„Aber wusstest du, dass wirklich
er
dir den Brief geschrieben hat?“
„Ja, sicher wusste ich das.“
„Was hast du gesagt?“
„Ich habe hochgeguckt, und er hat mich angestarrt, und ich habe gesagt: ‚Ich würde wahnsinnig gern mit dir zu Abend essen.‘ Und er sagte ‚super‘.“
„Theoretisch hat er den Zettel gar nicht geschrieben.“
„Aber natürlich hat er das!“
„Woher weißt du es denn?“
„Ich weiß es eben. Das ist echt lächerlich. Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?“
„Schon gut. Tut mir Leid. Erzähl weiter.“
„Wir sind an dem Tag essen gegangen, und er hat mich fürs nächste Wochenende eingeladen, und seitdem sind wir zusammen.“
„Das ist die Geschichte?“
„Das ist die Geschichte.“
„Es wäre aber erheblich spannender gewesen, wenn jemand anderes den Zettel geschrieben hätte.“
„Nun hör schon auf damit. Das Problem besteht jetzt darin, die Chose einen Schritt weiter zu bringen.“
Hm? Einen Schritt weiter? „Du willst mir doch nicht sagen, dass ihr zwei noch nicht miteinander geschlafen habt?“ Vielleicht ist ihre Sorge mit der alten Jungfer gar nicht so weit hergeholt.
„Na klar haben wir miteinander geschlafen. Es gibt auch noch
andere
weitere Schritte, weißt du.“
Andere weitere Schritte? „Sorry, aber mir gegenüber hat noch kein Typ einen anderen Schritt erwähnt, geschweige denn andere weitere.“
„Wir sind inzwischen seit fünf Jahren zusammen, und ich denke, es ist an der Zeit zusammenzuziehen.“
Ist sie verrückt? Hat sie vollkommen den Verstand verloren? „Das ist ein furchtbarer Plan.“
„Warum?“ hakt sie nervös nach. „Glaubst du nicht an das Zusammenleben vor der Ehe?“
„Natürlich tue ich das. Ich glaube nur nicht daran, dass man seine Mitbewohnerin mitten im Jahr mit einer Drei-Zimmer-Wohnung allein lassen sollte.“ Ich sehe auf meine Müslischale und seufze.
„Wie bitte?“
„Da ist zu viel Milch drin. Ich schütte noch etwas Müsli nach.“
Sie ignoriert die Überlegungen zu dem richtigen Mischungsverhältnis. „Ich würde dich nicht mit der Miete hängen lassen. Wir würden uns nach jemand anderem für dich umsehen, oder ich warte bis zum ersten September, wenn dein erstes Jahr rum ist.“
Rein rechnerisch betrachtet waren dann bereits dreizehn Monate um und nicht nur zwölf, weil ich den letzten Monat ihrer vorherigen Mitbewohnerin übernommen hatte und zum ersten September dann mein eigener Mietvertrag begann, aber offensichtlich wollte sie unsere Beziehung etwas herunterspielen, um ihr Schuldgefühl loszuwerden.
Was sollte ich ihrer Meinung nach tun? Ich kenne niemanden, mit dem ich zusammenleben möchte und der auch gerade nach einer Wohnung sucht. Ich kenne ja noch nicht mal jemanden, mit dem ich zusammenlebe möchte und der gerade keine Wohnung sucht.
„Ich habe ihn noch nicht gefragt“, fährt Sam fort, „aber ich lasse jeden Tag tausend Bemerkungen fallen.“
„Was für Bemerkungen?“
„Letztes Jahr, als Angie auszog, habe ich Marc gefragt, was ich machen soll, und er hat geantwortet: ‚Warum gibst du keine Anzeige im Stadtmagazin auf?‘ Dabei hätte er sagen sollen: ‚Es ist an der Zeit, dass wir zusammenziehen.‘“
„Du bist wütend über etwas, das er vor einem Jahr gesagt hat?“
„Nein, ich bin wütend über etwas, das er heute Nacht gesagt hat. Wir waren nach der Arbeit beim Chinesen verabredet. Er fragte: ‚Warum übernachtest du nicht bei mir?‘, und ich antwortete: ‚Okay, ich muss nur ein paar Sachen aus meiner Wohnung holen‘, und er sagte: ‚Weißt du, du solltest wirklich eine Zahnbürste und ein paar Kleinigkeiten … in deinem Auto haben.‘ In meinem Auto!“
„In deinem Auto!“
„In meinem Auto! Nicht in seiner Wohnung, sondern in meinem Auto. Ich frage dich: Ist das normal? Als wäre ich so ’ne Art Nomadin. Mir war
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