Großstadt-Dschungel
verpackt unter meinem Bett. Vielleicht hat mein Zögern etwas damit zu tun, dass, wenn das Regal erst mal steht, ich auch meine Bücherkisten auspacken muss, und das letzte Mal habe ich sie beim Einpacken gesehen, und zwar genau an dem Tag, als das Fiasko mit Jer begann. Vielleicht bin ich auch nur faul. Wer weiß.
Wir fangen mit der Arbeit an, oder besser, Andrew fängt mit der Arbeit an, während ich auf dem Bett sitze und ihm zugucke. Es ist schon nett, dass er rüberkommt und mir hilft („hilft“ ist wohl nicht ganz richtig, wo er doch die Sache allein erledigt). „Wer hat dir die Bilder aufgehängt?“ fragt er und sieht sich die beiden Drucke an. „Der Kuss“ hängt über meinem Bett, und das Bild, das Janie mir ein Jahr nach der Trennung von meinem Vater geschenkt hat – diese Art von Geschenk, die mir sagen sollte „Ich weiß, dass du eine obsessive Leserin bist, und ich kann mir vorstellen, dass die Scheidung dich sehr mitgenommen hat und du jetzt die Realität fliehen willst, aber das ist in Ordnung“ –, hängt über dem Platz, an dem mein Regal stehen soll. Es ist ein Gemälde von Jean-Baptiste Camille Corot, „Lesende Frau im Freien“. Als ich Jeremys Bild zum ersten Mal in meiner Wohnung aufhängte, besuchte ich an der Uni gerade einen Einführungskurs in Kunstgeschichte. Dort habe ich gelernt, dass „Der Kuss“ direkt der Italienischen Romantik zuzuordnen ist, Corot hingegen ein französischer Realist war. Entbehrt doch nicht einer gewissen Ironie.
„Das haben Sam und ich gemacht. Manchmal bin ich eben doch zu etwas zu gebrauchen, wie du siehst.“
„Ich habe nie das Gegenteil behauptet.“
Er versucht, für die Pizza zu bezahlen, aber ich bestehe darauf, ihn einzuladen.
„Erzähl mal was von Jess“, bitte ich ihn nach zwei Stücken Pizza und zwei montierten Regalböden.
„Sie ist ganz nett.“
Was würde Jess wohl denken, wenn sie wüsste, dass man sie als ganz nett beschreibt? Ich glaube, ich würde mich vor den Zug schmeißen. „Nichts Ernstes demnach?“
„Nein. Es macht Spaß, mit ihr was zu unternehmen, aber sie ist nicht
die
.“ Übersetzung: Ich schlafe gern mit ihr, aber ich möchte nicht nur mit
ihr
schlafen.
„Schwein.“
„Wer? Ich? Warum?“
„Du nutzt sie nur sexuell aus.“
„Ich nutze sie nicht aus. Wir schätzen gegenseitig unsere Gesellschaft. Sexuell.“
„Und im Kino.“
„Sexuelles Vorspiel.“
„Und was fehlt ihr also?“
Er überlegt. „Das sollte ich dir nicht sagen. Das ist nicht korrekt.“
„Sei kein Spielverderber. Sag schon. Ich behalt’s für mich.
Er runzelt die Stirn. „Sie ist eine Prinzessin. Sie erwartet von mir alles Mögliche. Als würden wir in den Fünfzigern leben. Andauernd muss ich sie anrufen. Andauernd muss ich sie abholen. Sie bietet nie an, mal zu zahlen. Und es geht nicht darum, dass ich nicht anrufen oder zahlen will, sondern wie sie es erwartet. Das strengt an. Und … es funkt nicht richtig zwischen uns. Weißt du, was ich meine?“
„Warum triffst du sie dann noch?“
Er lächelt schüchtern. „Na ja, sie ist schon scharf.“
„Siehst du? Du bist ein Schwein. Und solange du sie noch triffst, wirst du der ‚Richtigen‘ sicher nicht begegnen. Du solltest dich mit anderen Frauen verabreden. Ich würde dir anbieten, dich mit jemandem zu verkuppeln, aber meine Freundinnen sind derzeit alle etwas durch den Wind.“ Ich nicke in Sams Richtung.
„Sam ist süß.“ Sam und Andrew? Die Initialen S und A sind nicht so lustig wie S und M. Ich kann mir für sie keinen anderen vorstellen als Marc.
„Versprich mir nur, dass ich nie wieder einen Abend mit Natalie zusammen verbringen muss.“
„Warum nicht?“
„Zu verwöhnt. Die ist ja noch mehr Prinzessin als Jess.“
Hm. Warum fühle ich mich bei diesem ganzen Prinzessinnengerede plötzlich so unbehaglich? Ich rutsche vom Sofa neben ihn auf den Fußboden und greife nach einem Schraubenzieher. „Wie kann ich dir helfen, lieber Freund?“
Ich bin eine super Mitbewohnerin, und hier kommen die Gründe:
1. Ich nehme alle Bilder von Marc und Sam und alle Teddys, die er ihr geschenkt hat (und zwar alle acht, inklusive dem ollen Kirmesbären), stopfe sie in einen grünen Müllsack und verstaue sie in dem Wandschrank hinter meinem langen schwarzen Mantel, den ich seit Jahren nicht anhabe, mich aber auch nicht wegzuschmeißen traue, weil die Mode ja wiederkommen könnte.
2. Ich überzeuge Sam drei Mal davon, das Telefon wieder wegzulegen, weil ich den
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