Grote, P
ließ ihn staunen. Wozu dieses Verwirrspiel? Waren das alles Täuschungsmanöver und Vernebelungstaktiken? Wie kaltschnäuzig Tudor Dragos log, mit welcher Gleichgültigkeit er über das Debakel mit Ana Cristina hinwegging, oder war sie gar nicht seine – ja was eigentlich? – Spionin, Agentin oder Vertraute? Und wenn sie nicht in seinem Auftrag, sondern für jemand anderen gearbeitet hatte, für wen dann?
Elmar Harms fiel ihm ein, und gestern Nacht, als er nicht hatte schlafen können, hatte er die von Sichel gefaxte Namensliste ausführlich studiert. Erst jetzt, wo er sich in Rumänien ein wenig orientieren konnte und sich die Namen der Städte eingeprägt hatte, war ihm aufgefallen, dass sich die Anschriften der Personen auf der Liste fast alle im Raum Dealu Mare konzentrierten. Eine Adresse hatte er wiedererkannt, sie stand ebenfalls auf seinem Besuchsplan, es war eine Forschungsanstalt in der Nähe von Ploieşti.
Es wurde höchste Zeit, das Mobiltelefon wegzulegen. BeideHände wurden am Steuer gebraucht. Die Kurven wurden zu Spitzkehren. Die Scheibenwischer schafften kaum noch den Regen von der Frontscheibe. Der Gebirgsbach links war kaum noch zu sehen, dafür war sein Brausen umso besser zu hören, die Fahrbahn schwamm. Im Schritttempo fuhr Martin durch die Wolken auf etwa tausendfünfhundert Meter Höhe, an den Seiten versperrten die Felswände der Klamm die Sicht. Er hätte sich nicht gewundert, wenn aus der grauen Suppe plötzlich die von vier schwarzen Hengsten gezogene Karosse des Grafen Dracula aufgetaucht wäre. Jetzt befand er sich in Transsilvanien. Er hätte sich sowieso über nichts mehr gewundert, auch nicht darüber, wenn ihn die jetzt in Fahrtrichtung herabrinnenden Wassermassen in den nächsten Fluss geschwemmt hätten.
In Gheorghen, der nächsten Stadt, war alles wieder friedlich. Im Nieselregen fand Martin im Ort einen Laden mit einem Kaffeeautomaten. Simion stieg bleich aus seinem Wagen. Das Unwetter erinnere ihn an die Tropenstürme Vietnams. Deshalb war ihm die Pause lieb, aber die kaum nach Kaffee riechende Brühe, die eine Angestellte für sie aus dem Automaten zapfte, machte die Erholung zunichte. Es war der bislang schlechteste Kaffee auf der Reise. Die nächste Katastrophe war die Straße, ein Schlagloch reihte sich ans andere, und Teile der Straße waren weggebrochen.
»Das haben wir in Vietnam mit ihren Straßen gemacht«, sagte Simion übers Mobiltelefon mit dem zynischen Humor eines Militärs oder der Arroganz allen Nicht-Amerikanern gegenüber. Er fuhr wieder direkt hinter Martin her. »Aber Charlie hat die Löcher in der Nacht wieder zugeschüttet. Die hier sind bestimmt zwanzig Jahre alt.«
»Wer ist Charlie?«
»So nannten wir den Vietcong . . .«
Im Regen waren die Schlaglöcher vollgelaufen, es war nicht zu erkennen, wie tief sie waren. Deshalb war man gezwungen, drum herum zu fahren und auf den wenigenpassierbaren Stücken zu überholen. Die Strecke zehrte an den Nerven, kaum war die Tachonadel bei fünfzig angekommen, war die nächste Vollbremsung nötig. Als besonders gefährlich stellten sich die unbeschrankten Bahnübergänge dar. Jeder fuhr im Schritt bis ans Gleis heran, überquerte langsam die zwanzig Zentimeter aus dem Boden ragenden Schienen und hoffte, nicht von einem plötzlich auftauchenden Zug erfasst zu werden. Aber die veralteten Triebwagen, in den Fünfzigerjahren in Dienst gestellt, waren selten. Die rumänische Eisenbahn zu modernisieren – Martin konnte sich vorstellen, dass da enorme Geschäfte in Aussicht standen: Die Steuerzahler der EU bringen das nötige Geld auf, die Konzerne stecken es ein, die Politiker erhalten ihre Provision von den Lobbyisten und die Arbeiter den Mindestlohn.
Zu dieser Vision passte Târnăveni mit Plattenbau-Quartieren, armselig ausgestatteten Läden und Fabrikruinen wie die Gerippe gestrandeter Wale am Stadtrand. Die Kleinstadt entsprach der deprimierenden Stimmung, die sich auf Martin legte. Die Reise zermürbte ihn. Es gab nichts, was ihm Freude bereitete. Glücklicherweise begann es aufzuklaren, Hügel hoben sich aus dem Dunst, sanft ansteigende Hänge mit Rebzeilen und Wäldern auf den Kämmen schälten sich aus den Wolkenfetzen, und die Sonne beschien ein weites offenes Tal, das im strahlenden Licht erheblich an Sympathie gewann. Die anscheinend erst kürzlich restaurierte Festung Cetatea de Baltă auf einer Anhöhe beherrschte das Tal. Martin hätte sie gern besichtigt, aber er war spät dran, hatte sich der
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