Grote, P
überzeugt, dass jedes System, wie auch das der Nazis, weniger mittels Terror als durch Zustimmung seiner Bürger funktionieren konnte, durch Mitläufer, Spießgesellen, Günstlinge und Profiteure.
»Es gab in Rumänien eine sogenannte Front zur Rettungdes Vaterlandes. Unser Vater stand ihr nahe, aber er war skeptisch. Es gab intern zu viele Ungereimtheiten. Und Vertrauen?, werden Sie fragen. Das ist nur ein Wort. Am wenigsten darf man denen trauen, die es von einem verlangen oder darum bitten, meinte er immer. Das hat sich in der Bankenkrise wieder mal gezeigt. Wenige Tage nach dem Putsch, so nannte mein Vater die Erschießung Ceauşescus, wollte er nach Moskau fliegen. Wir, also Sofia, meine Mutter und ich, haben ihn zum Flugplatz gebracht. Vater ist durch die Passkontrolle gegangen, hat sich umgedreht, hat gewunken – ja, wir glauben, er ist nie in die Maschine gelangt.« Lucien senkte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und zog sich ganz in sich zurück. »Die rumänischen Behörden sagen, er sei mitgeflogen. In Moskau hieß es, er sei nicht angekommen.«
»Heißt das, man hat ihn zwischen der Sicherheitskontrolle und dem Rollfeld verhaftet?«
»Entführt!« Lucien legte seine Pranken hilflos auf den Tisch und wirkte wie jemand, der etwas falsch gemacht hat. »Es ist hier oder in Moskau geschehen. Wir haben ihn nie wiedergesehen. In den Kämpfen nach Ceauşescus Hinrichtung hat es an die zweitausend Tote gegeben, während der gesamten kommunistischen Herrschaft sollen es bis zu sechzigtausend gewesen sein. Mütter, Väter, Geschwister, Menschen wie wir, und Freunde. Es gibt die Tränen, und es gibt die Mörder, und sie leben unbehelligt in unserem Land. Und kein Gedanke an Trauer, an Aufklärung, an Vergeltung, nur Schweigen. Ist das nicht fürchterlich?«
»Ihr Deutschen müsst es kennen, bei euch waren es viel mehr«, sagte Sofia, als sie an den Tisch trat. Sie wollte fortfahren, doch ihr Bruder winkte ab.
»Unser Vater wird einer jener sechzigtausend sein – oder er ist tatsächlich in Moskau angekommen, und sie haben ihn dort verschwinden lassen. Doch in der Zeit von Gorbatschow wohl kaum und später auch nicht. Aber was wissenwir eigentlich? Auch die CIA führt hier geheime Gefängnisse, wie bekannt wurde. Die Regierung streitet natürlich immer alles ab.«
Das Verschwinden des Vaters hatte offensichtlich bei beiden, bei Lucien sicher anders als bei Sofia, tiefe Spuren in der Seele hinterlassen, ihr Leben war davon durchdrungen. Martin erinnerte sich an Gastons Tod und an die Wirkung auf sich selbst.
Wäre es indiskret, danach zu fragen, weshalb man den Vater hatte verschwinden lassen? Martin sah Lucien an, und der enthob ihn des Zweifels. »Vater war bekannt, er hatte einen Namen innerhalb der Kommunistischen Partei. Einerseits hat er mitgemacht, andererseits hat er immer ausgelotet, wie weit er gehen konnte. Er war ein Gratwanderer, aber nicht das, was man in jener Zeit einen Kommunisten nannte. Man hat ihn kaltgestellt. Es gab viele geheime Treffen in der Zeit des Umbruchs, der gesamte Ostblock war in Aufruhr, denken Sie an Polen, wir haben damals vieles mitbekommen. Mein Vater gehörte zu einem Kreis von Rumänen, die etwas Ähnliches anstrebten wie das, was im Prager Frühling 1968 gescheitert ist, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen . . .«
»Davon reden viele«, seufzte Martin, »vom menschlichen Antlitz.« Er blickte in die ernsten und abweisenden Gesichter ringsum und starrte dann aufs Wasser, das ein Windhauch kräuselte.
»1991 haben wir Studenten protestiert. Wir waren viele, sehr viele, wir wollten Demokratie, wir haben auf der Piat¸a Universităt¸ii gesessen, bis Gewerkschaftsführer Miron Cozma seine Bergarbeiter schickte. Und die schlugen erbarmungslos zu, härter als die Polizei.«
»Sie waren selbst dabei?«
Lucien zog den linken Ärmel hoch und zeigte einen großen rotblauen Fleck, sogar die Beule darunter am Knochen war deutlich zu sehen. »Mit einem Knüppel hat manmir den Arm gebrochen. Das waren selbst arme Schweine, aufgehetzt von Miron Cozma. Das Gesicht von diesem Demagogen werde ich nie vergessen, der arrogante Ausdruck seiner Augen, der Schatten des Bartes um den Mund, die hohe Stirn, die eigentlich einen Denker dahinter vermuten lässt – ja, denken konnte er, böse Gedanken. Die von ihm und wahrscheinlich vom späteren Präsidenten Ion Iliescu inszenierten Proteste haben die erste Übergangsregierung nach den Kommunisten gestürzt.
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