Grün. Le vert de la Provence
Sophie
hinübergeworfen, dann aber sofort wieder Vidal angesehen, der nun seinerseits
die Haushälterin betrachtete. Die Frau beäugte ihn mit deutlich sorgenvollem
Gesichtsausdruck.
Alles haben die Bürger von Prades offensichtlich noch
nicht ausgesagt, dachte Vidal.
Tödliche Optionen
Ein Lufthauch wehte über den Höhenrücken, strich vom
Dorf aus durch die Garigue und bewegte dabei kaum vernehmbar filigrane Halme
ausgemergelter Gräser. Auf Alains schweißfeuchter Haut hinterließ dies die
Illusion von Kühlung. Tatsächlich brannte die Sonne in dieser schattenfreien
Einöde jedoch noch intensiver, als es im Tal der Fall gewesen war.
Nachdenklich betrachtete er Thomas Engler. Der Mann trug
ein Polohemd. Gesicht, Hals, Nacken, Arme und Hände waren von einem Flaum fast
farbloser Haare überzogen, die in einem filzigen Durcheinander mit Schweiß
verklebt waren. Ein erster Hauch unnatürlicher Röte war zu erkennen, den das
Sonnenlicht an der Brücke auf seiner hellen Haut hinterlassen hatte. Eine
weitere Stunde ohne Schutz im Licht, überlegte Alain, würde Engler den Rest
geben. Dann wäre aus dem zarten Rotton ein intensiv leuchtendes Signalrot
geworden, begleitet von schmerzendem Brennen. Der Schweiß würde in einer zähen
Schicht seine Haut bedecken und ihm die durchtränkte Kleidung an den Körper
kleben.
Sie hatten keine Getränke dabei. Pauline und er würden
dies trotz quälenden Dursts gut überstehen. Ebenso wie die Sonnenbestrahlung,
die Hitze, die klebende Kleidung und das grelle Licht, das der kalkhelle Fels
unter ihren Füßen reflektierte. Dies war ihr Vorteil gegenüber Engler, dem sie,
was immer seine Absichten an diesem Mittag waren, am Ende vermutlich im Weg
wären.
Engler hatte die Pistole der toten Melissa gefunden,
obwohl Alain meinte, sie hinreichend gut versteckt zu haben, wobei allerdings
der alte Hof grundsätzlich nur begrenzte Möglichkeiten dafür geboten hatte. In
jedem Fall bedeutete es, dass Engler intensiv gesucht haben musste, was die
Alte freiwillig nicht zugelassen hätte. Was hatte er mit ihr angestellt? Und wann
war er dort gewesen? Vermutlich früh am Morgen, als er selbst schon auf dem Weg
zum Kloster gewesen war. Engler musste ihn beobachtet haben. Vielleicht hatte
der Mann schon Sonntag auf der Lauer gelegen, nachdem er Valerie verlassen
hatte.
Alain schaute zum Himmel, taxierte den Verlauf der Sonne
und ging im Gedanken die möglichen Wege durch, die sie über das Plateau
einschlagen konnten. Er suchte eine möglichst schattenfreie Route mit
anstrengenden Passagen über harten, unebenen Boden. Eine Route, auf der jeder
Schritt kontrolliert und jeder Tritt überlegt sein wollte. Eine Route, die
einen Städter überfordern würde. Aber eine Route wohin? Ein Strauch
Erd-Burzeldorn wäre in dieser Ödnis kaum zu finden. Das wusste Pauline ebenso.
Tatsächlich glaubte Alain aber nicht an Englers Pflanzenkenntnis. Vermutlich
könnten sie dem Mann eine ganze Reihe von Pflanzen als einen Erd-Burzeldorn
präsentieren. Das Ziel war zunächst nur, Zeit zu gewinnen, Engler zu zermürben
und auf eine Chance zu warten, sich seiner zu entledigen oder ihm zumindest die
Pistole abzunehmen.
Die Pistole. Verflucht noch einmal. Was hatte Engler denn
tatsächlich auf dem Hof gesucht, als er die Waffe fand. Paulines Buch? Es war
nach Eds Tod nicht mehr in der Bastide gewesen. Die kleine Nutte Melissa musste
es mitgenommen haben. Aber wo war es jetzt? Es war Eds Idee gewesen, es in der
Bastide aufzubewahren. Aus Sicherheitsgründen! Hatte Ed geahnt, welche
Begehrlichkeit diese Aufzeichnungen wecken würden? In dem Fall war es noch
unverständlicher, dass Ed Engler in alles eingeweiht, ihn sogar zu Pauline und
zu seinem Hof geführt und über die einzigartige Wirkung der von Pauline
genutzten Pflanzen informiert hatte.
Momentan waren diese Überlegungen aber müßig. Drei Menschen
waren bereits umgekommen. Was mit seiner Mutter passiert war, wusste Alain
nicht und wollte darüber auch nicht spekulieren. Ob Engler eine Verantwortung
an alledem trug, war ihm zunächst auch gleichgültig. Er würde es aber zu
verhindern wissen, dass Pauline und er die nächsten Opfer wären.
„Wir müssen rechts vom Dorf den Hang hinunter“, entschied
er und marschierte talwärts los, ohne auf Engler und Pauline zu warten. Der
Pfad war von losem, faustgroßem Geröll überzogen. Dazwischen ragten
scharfkantige Steine knöchelhoch aus dem Untergrund. Er blickte noch einmal auf
die Senke, die vor
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