Grün. Le vert de la Provence
endgültig befreit worden.
„Ed hat sich für Militaria interessiert?“, fragte Anselm
skeptisch.
„Nein, eigentlich nicht. Aber Militaria bieten eine gute
Möglichkeit zur Orientierung. Die Chronisten des Krieges waren stets sehr
pedantisch, was die formalen Aspekte angeht. Daten, Uhrzeiten, räumliche
Bewegungen, handelnde Einheiten, logistische Lösungen, Kommunikation, Opfer.
All das kann man sehr gut aus solchen Publikationen herauslesen und dann
konkreter die Bereiche recherchieren, die einen wirklich interessieren.“
„Und welche Bereiche waren das bei Ed Baumann?“
„Kollaboration und Beziehungen zwischen Deutschen und
Franzosen oder genauer, zwischen deutschen Männern und französischen Frauen.
Man hat ja lange in diesem Land einen Mantel des Schweigens darüber
ausgebreitet, dass es zwischen Besatzern und Besetzten Beziehungen gegeben hat.
Ich las vor kurzem, dass es vermutlich mehr als zweihunderttausend Kinder gibt,
die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind. Les enfants maudits , die
Kinder der Schande, wie man sie nennt.“
„Und dafür hat Ed sich interessiert?“, Anselm schüttelte
ungläubig den Kopf.
„Ich glaube, ich kenne die Antwort.“ Valerie hatte
gebannt auf die Karte gesehen und mit dem Zeigefinger eine blaue gestrichelte
Linie verfolgt, die von Draguignan aus nach Apt reichte und dort
eine gestrichelte rote Linie mit dem Datum zweiundzwanzigster August traf, die
weiter über den Montagne de Lure durch die Haute Provence führte. „Eds
Vater war während der Besatzung hier stationiert. Als einfacher Soldat, der
aber wegen seiner exzellenten Französischkenntnisse immer wieder für besondere
Einsätze abkommandiert worden ist. Er war sehr beschämt über das, was die
Deutschen hier angerichtet haben. Möglicherweise hat Ed versucht, die Spuren
seines Vaters aufzunehmen.“
„Bei Kollaborateuren und den Kindern der Boche ,
der verachteten Deutschen?“, fragte Anselm skeptisch.
„Er hat auch viel Material über das Beziehungsgeflecht
französischer und deutscher Unternehmen gesammelt.“ Victor Rousseau hatte sich
weit zu Anselm und Valerie gebeugt und sprach leise und fast tonlos, als
befürchtete er, in seinem Laden überwacht und abgehört zu werden. „Es hat ja
wirtschaftliche Verflechtungen gegeben, die nie ganz aufgearbeitet worden sind.
Er hat aber nie konkret darüber gesprochen, ich habe für mich immer nur
einzelne Details zusammenaddiert.“
Der Mann flüsterte nur noch. Anselm war sich dabei nicht
schlüssig, ob hier die Fantasie mit einem alternden Buchhändler durchging oder
ob der Mann wirklich berechtigte Sorge hatte. Aber Sorge wovor? Ed war Verleger
gewesen und kein investigativer Journalist oder Autor. Es war ausgeschlossen,
dass er mehr als ein akademisches Interesse an der Befreiung der Provence
gehabt haben könnte. Andererseits bestanden durch den alten Baumann ein
konkreter Bezug zur Zeit der deutschen Besatzung und damit eine mögliche
Verbindungslinie zu Ereignissen und Personen. Anselm beschloss, diesen Aspekt
bei einer passenden Gelegenheit mit Valerie zu besprechen. Allerdings hatte sie
ihn lediglich darum gebeten, Pauline zu finden und Eds naturheilkundliche Pläne
ergaben zumindest eine Erklärung für sein Interesse an dieser Frau. Die
Befreiung der Provence, Kriegsverbrechen, Kollaboration, Widerstand und die enfants
maudits fügten sich dabei nicht in das Bild.
Sie verließen das Antiquariat und schlenderten noch eine
Zeitlang durch die engen Gassen, die etwas mehr Schatten boten als die breiten
Boulevards. Es war ein malerisches Viertel, mit vielen kleinen überraschenden
Winkeln und teilweise wunderschönen Stadthäusern.
Der Anruf von Kommissar Vidal erreichte sie wie ein
Schlag aus dem Hinterhalt. Das Gespräch war kurz und einseitig, Valerie sprach
nur einmal und erklärte, dass sie in Avignon seien. Danach kam von ihr nur noch
ein „Ja“. Sie sah Anselm irritiert an. „Wir werden verhört. Und zwar jetzt
gleich. Wir sollen ohne Verzögerung umgehend ins commissariat central kommen. Vidal hat sich ziemlich aufgeplustert.“
Blaue Stunde
Vereinzelt glühten spröde Felszacken am oberen Grat der
Schlucht in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf. Tief unter ihnen
lag der Canyon bereits im Dämmerlicht, in dem sich die scharfkantigen Abbrüche
verloren. Seit ihrer Abfahrt aus Avignon hatten sie nur kurz darüber
gesprochen, nicht über den Pass zu fahren, sondern die Route durch die Schlucht
unterhalb zu
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