Grün. Le vert de la Provence
Bergwelt gebaut worden. Sie hob und
senkte sich, oft über viele Kilometer ohne eine nennenswerte Biegung, auf den
Wogen des gebirgigen Untergrundes. Eine Rennstrecke, die sich durch eine
menschenleere Landschaft zog, umgeben von schier endlosen, niedrigen
Eichenwäldern. Erst am Abstieg der Straße hinab in die Ebene wurde ihr Verlauf
wieder kurviger. Als Anselm dort ein weiteres Mal die alte Passstraße kreuzte,
erwähnte er die Fernsehnachricht über den Mord.
„Das ist ja schrecklich!“, kommentierte Valerie seinen
Bericht.
„Wie starb sie?“
„Da wurde nichts drüber gesagt.“
„Weiß man, wer sie ist?“
„Bislang offensichtlich nicht. Man vermutet, dass sie
keine Französin ist.“
Wieder schwieg Valerie und sah nachdenklich zum
Seitenfenster hinaus. Jedenfalls schien es Anselm so. Vielleicht wollte sie
aber auch nur ihre Gefühle unter Kontrolle bringen und dabei möglichst
unbeobachtet bleiben. Seit dem vorigen Abend war sie ungewöhnlich in sich
gekehrt. Er hatte sie gefragt, ob sie noch unter Migräne litt, sie hatte aber
verneint.
„Woran denkst du?“, fragte er schließlich, ohne sie dabei
anzusehen.
„Ein bisschen viel Tod innerhalb weniger Tagen in meiner
Umgebung.“
„Siehst du einen Zusammenhang?“
„Man denkt darüber nach. Klar. Aber ich wüsste nicht,
worin dieser Zusammenhang bestehen sollte. Es ist nur bedrückend.“
Bis kurz vor Avignon beschränkte sich ihre weitere
Unterhaltung auf Bemerkungen zum Verkehr, auf Fragen zur Fahrtstrecke, die
Anselm nicht kannte und auf Kommentare zu den Touristen, die mit ihrem Fahrstil
den Verkehrsfluss häufig beeinträchtigten.
Ed hatte Kontakt mit einer großen Buchhandlung für
aktuelle Literatur und einem Händler antiquarischer Büchern, livres anciens, gehabt. Valerie und Anselm hatten Quittungen und Informationen über das
Eintreffen bestellter Werke gefunden. In der Buchhandlung wusste man nur nach
einem Blick in den Computer, dass Ed dort ein guter und regelmäßiger Kunde
gewesen war. Eine junge Angestellte erinnerte sich zudem an ihn als einen
charmanten Deutschen, der ausgezeichnet französisch sprach.
Das Antiquariat hingegen erwies sich als ein Volltreffer.
Es lag in einer winzigen Seitengasse. Touristen würden sich nie dorthin
verlaufen, obwohl sie fast unmittelbar an das historische Zentrum der Stadt und
die stets überquellende Rue de la République grenzte, die zum Papstplast
führte. Ein einziges, mit massiven Eisenstäben vergittertes Schaufenster gab
den Blick in den dunklen, mit Büchern und Drucken überfüllten Verkaufsraum
frei. Darüber lagen Wohnungen hinter malerischen Sprossenfenstern, die von
weißen Klappläden gerahmt waren. Es war das alte Avignon, das in diesem Teil
der Stadt noch seinen Zauber bewahrt hatte. Ein mystisch wirkender Ort. Die schmale
Gasse, die nur Raum für einen einzelnen Kleinwagen bot, verlor sich an einer
hohen, efeubewachsenen Mauer, hinter der ausladende Baumkronen emporragten, in
den engen Winkeln des Altstadtlabyrinths.
Das Innere des Antiquariats bestand aus mehreren winzigen,
ineinander übergehenden Räumen mit dunklen Regalen, deren Holz von vielen
Berührungen glattgeschliffen war. Anselm entdeckte mehrere Aquarelle mit
Pilzmotiven von Jean-Henri Fabre und ein ganzes Regal ausschließlich mit Werken
des provenzalischen Entomologen. Er sog den Duft ein, den ausschließlich alte
Bücher in ebensolchen Räumen auszuströmen vermögen, und der in ihm stets eine
leidenschaftliche Leselust weckte.
Der Besitzer stellte sich als Victor Rousseau vor.
Valerie erläuterte ihm, weswegen sie gekommen waren. Er wirkte betroffen, als
er von Eds Tod hörte. Edgar Baumann sei ein guter Kunde und ein wahrhaftig
großer Kenner bibliophiler Schätze gewesen, versicherte er den beiden.
„Haben Sie ihm vielleicht A Curious Herbal verkauft?“, unterbrach Anselm Rousseau, der Anstalten machte, umfängliche
Beileidsbekundungen auszusprechen.
Der Mann lächelt mild und schüttelte dabei sanft den
Kopf. „Nein, Monsieur, das wäre eine Nummer zu groß für mich gewesen. Ich habe
den Kauf aber vermittelt. Ein amerikanischer Kollege hatte ein Exemplar in
seinem Sortiment. Ich habe das Buch für Monsieur Baumann recherchiert und den
Kontakt hergestellt.“
„Und was hat Monsieur Baumann denn bei Ihnen gekauft? Gab
es eine bestimmte thematische Richtung?“
„Zwei, streng genommen. Ein besonderes Interesse von
Monsieur galt allen Werken über Heilpflanzen und dem traditionellen Wissen
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