Grün. Le vert de la Provence
enge
und steile Holzstiege in das nächste Geschoss wand. Auch die Tür zur Diele war
nur angelehnt, nicht aber geschlossen, wie er es auf seinem Hof aus Prinzip so
machte, um Insekten und Skorpione soweit wie möglich aus dem Haus zu halten.
In der Diele nahm er erstmalig die Fotos wahr, die
unregelmäßig an den Wänden hingen und einzelne Personen, Paare und arrangierte
Familiengruppen zeigten. Die meisten Motive schienen aus lange zurückliegenden
Generationen zu stammen. Nur wenige erinnerten ihn an die Zeit seiner eigenen
Kindheit. Sie zeigten eine Frau mit Kind in Aufnahmen aus unterschiedlichen
Jahren. Auf einem einzigen Bild war dazu noch eine sehr alte Frau zu sehen. Auf
einem Foto erkannte er die Frau mit dem Kind, als sie noch ganz jung gewesen
war. Ein strahlender junger Mann hielt einen Arm eng um sie geschlungen. Sie
standen in einem gepflegten Garten vor einem großen herrschaftlichen Haus. Ganz
offensichtlich waren dies Erinnerungen aus Paulines Leben. Sie hatten nie über
ihre Kindheit gesprochen. Er wollte sie auf diese Fotos ansprechen, um mehr
darüber zu erfahren.
Die Tür zum Wohnraum war geschlossen und er klopfte,
während er sie gleichzeitig öffnete und „Hallo!“ rief. Er hatte erwartet,
Pauline an ihrem Arbeitsplatz vorzufinden, sah aber nur einige aufgeschlagene
Bücher, die auf dem Schreibtisch lagen. Der Raum duftete wie die anderen Räume
nach Bienenwachs und Leinöl, es lag aber zudem ein Duft in der Luft, wie er
typischerweise in Bibliotheken zu finden war. An den Wänden reihte sich Regal
an Regal, gefüllt mit Büchern, die ihm teilweise uralt zu sein schienen.
Großformatige Folianten mit Ledereinband und geprägten Lettern. Einige der
Regalböden waren leergeräumt, nur ein einziges Buch war dort verblieben, der
Rest lag ungeordnet geöffnet auf dem Boden davor.
Pauline wäre niemals so unachtsam mit ihren Büchern
umgegangen. Hier hatte jemand hastig nach etwas gesucht, nach einem
spezifischen Objekt oder einer bestimmten Information. Mit Sicherheit stand
diese Suche damit in Zusammenhang, dass Pauline nicht zum Markt gekommen war.
Jean-Noël registrierte ein Ansteigen seiner Pulsfrequenz
und ein widerwärtiges Kribbeln im Nacken. Was immer in diesem Haus passiert
war, es war noch nicht lange her. Und wer immer hier etwas getan hatte, war
noch nicht fort. Und diese Person war ganz in der Nähe. So nah, dass er
eigentlich das Atmen hätte hören müssen, wenn sein Herzschlag nicht so laut
gewesen wäre und sein Blut nicht so in den Ohren gerauscht hätte.
Seine Panik brach unvermittelt durch und entlud sich in
einem gellenden, hysterischen Schrei der Angst, der in ein gurgelndes Röcheln
überging, als die Drahtschlinge sich durch das Fleisch seines Halses schnitt,
die Luftröhre und den Kehlkopf einquetschte und schließlich jeden Laut
auslöschte. Er ruderte ziellos mit den Armen in der Luft, versuchte Halt zu
finden und Finger unter den Draht zu schieben. Seine Augen traten weit aus
ihren Höhlen heraus und seine anschwellende Zunge verdrehte sich zu einer
unförmigen Wulst zwischen den auseinandergerissenen Lippen, dann fiel er
zuckend zu Boden. In einem letzten Flackern seiner Gedanken sah er Marie auf
dem einsamen Hof, schutzlos und verzweifelt.
Sonntag, 22. August
Gestörte Idylle
„Was machst du da?“ Julie war wach geworden. Luc Vidal
stand im Türrahmen und hielt einen Rucksack in der Hand.
„Wandervorbereitungen“, sagte er und grinste. „Jeans, T-Shirt, Sportsocken,
Turnschuhe, neuer Rucksack. Ich habe die Socken hier drin gesucht.“
Julie sah auf die Uhr. „Es ist Sonntag. Können wir nicht
wenigstens einmal ein wenig ausschlafen und ein paar Minuten einfach so im Bett
liegen bleiben? Warum müssen wir schon so früh los?“
„Wanderer starten immer früh!“ Er hatte die Socken
gefunden und setzt sich auf die Bettkante, um sie anzuziehen. „Außerdem gibt es
auf dem Felsen kaum Schatten. In der Mittagssonne dort zu wandern, ist blanker
Wahnsinn.“ Er streckte das Bein in die Höhe und bewegte dabei den Fuß,
zufrieden die neuen Sportsocken begutachtend.
„Das sind Tennissocken. Keine Wandersocken.“ Julie hatte
sich im Bett gedreht und begutachtete jetzt ebenfalls Lucs Neuerwerbung. Es war
ungewohnt, seine Füße einmal nicht in schwarzen Businesssocken zu sehen, die er
sonst immer trug.
„Egal. Aber schwarze Socken in Turnschuhen sehen einfach
albern aus.“ Er stand auf und zog Jeans und T-Shirt über. „Ich bin fertig.
Können wir
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