Grün. Le vert de la Provence
Wälder. „Das Böse ist die ganze Zeit über dagewesen. Es hat irgendwo
dahinten, nur wenige Kilometer von hier, eine blutjunge Frau getötet. Das Böse
ist immer noch da draußen. Irgendwo. Wir haben es noch nicht erwischt und es
kann ganz plötzlich wieder zuschlagen. Ich bin einfach beunruhigt.“
„Was könntest du machen?“
„Ich habe mit dir einen Ausflug gemacht, das hilft mir
vielleicht, den Kopf wieder frei zu bekommen. Wir stecken in einer Sackgasse.
Wenn man dann immer nur im eigenen Saft schmort, kommt man meist nicht weiter.
Etwas Abstand kann helfen, kann neue Blickwinkel eröffnen. Außerdem wollte ich
mit dir einmal ein paar private Stunden verbringen. Ein ganz normales
Sonntagsvergnügen.“ Er grinste bewusst gekünstelt.
„Um dabei von oben auf die Schauplätze der Handlung zu
schauen!“
„Manchmal ist dieser Blickwinkel ganz erhellend.“
Der befürchtete Anruf erreichte sie am Fuß des Berges,
als sie nach dem steilen Abstieg auf die nördlichen Ausläufer des Dorfes
stießen. Luc telefonierte im Gehen. Julie konnte sich aus den wenigen Worten,
die er sprach, keinen Reim machen. Bis zum Parkplatz sagte Luc danach nichts
und sie stellte keine Fragen. Er hatte die Gehgeschwindigkeit deutlich erhöht.
„Ich muss dich mitnehmen“, waren im Auto seine ersten
Worte. „Es gibt hier nirgendwo eine Möglichkeit für dich, allein nach Avignon
zurückzukommen und ich kann keine Zeit verlieren.“
„So schlimm?“
Er nickte stumm und beschleunigte hart, nachdem sie die
letzten Häuser passiert hatten. Die Fahrt dauerte trotz des Tempos, mit dem Luc
über die schmalen Bergstraßen fuhr, fast eine Stunde, bis sie in einem
einsamen, kargen Tal ankamen. Eine schmale Staubpiste führte über mehrere
Kilometer in die Wildnis hinein, bis sie schließlich vor einem alten Gehöft
anhielten. Zwei Fahrzeuge der Police municipale und vier Zivilfahrzeuge der
Police nationale parkten zwischen Schuppen und Wohngebäude auf einem gekiesten
Hof. Dazwischen stand ein Lieferwagen, auf dessen mattrotem Lack mit weißer
Farbe „Jean-Noël Baudouin – Fromage de Chèvre“ geschrieben stand.
Pauline Marchal hatte das Anwesen allem Anschein nach
gezielt verlassen. Nicolas Gauthier und das Team der Spurensicherung, die vor
Luc Vidal am Tatort eingetroffen waren, konnten bei einem ersten
oberflächlichen Blick in die Räume des Hauses keine Zahnbürste, Zahncreme und
auch kein Duschgel entdecken. Der Lieferwagen, mit dem die Frau zu den Wochenmärkten
fuhr, war im Schuppen abgestellt, es fehlte aber ein Mofa, an dessen Existenz
sich der Nachbar erinnerte, der den toten Käsehändler gefunden und die Polizei
alarmiert hatte.
Ob die Piste der einzige Weg zum Hof sei, wollte Vidal
von ihm wissen.
Der Mann neigte kurz den Kopf zur Seite. „Kommt drauf an.
Hinter dem Hof kreuzt noch ein Pfad das Tal und führt von Norden nach Süden
durch die Berge. Den können Sie aber nur zu Fuß benutzen, oder mit einen
Mountainbike, einem Trecker oder Geländewagen. Neuerdings fahren da auch so
Bekloppte mit nervtötenden Quads oder Enduros entlang.“
„Nicht für Mofas geeignet?“
Der Mann wiegte den Kopf. „Für Mofas vielleicht, aber
nicht für Lieferwagen, nicht für normale Autos.“
„Und jeder, der auf der Piste hierher fährt, wird von
Ihnen aus gesehen?“
„Die Hunde wittern jeden. Bei Fremden schlagen sie dann
an. Das setzt sich von Hof zu Hof entlang der Strecke so fort. Automatisch
sieht man dann hin, wer sich als Fremder im Tal bewegt.“
„Der Täter muss also über den Pfad zum Hof gelangt sein.
Sonst hätten Sie oder einer der anderen Nachbarn ihn bemerkt?“
„Ganz sicher. Das ist zwar eine total einsame Gegend
hier, aber auf die Hunde ist Verlass. Man kann über eine lange Zeit ganz genau
am Bellen verfolgen, wo sich ein Fremder grade im Tal bewegt. Ich habe alle
Nachbarn angerufen und befragt. Der Mann mit dem Lieferwagen war definitiv der
Letzte, der ins Tal hineingefahren ist. Deswegen bin ich dann ja auch heute in
der Frühe hierher gekommen. Wir haben seit Tagen nichts von der Pauline gesehen
und gehört. Es musste also was faul sein, wenn jemand zu ihrem Hof fährt und
nicht wieder zurückkommt.“
Der wesentliche Sachverhalt der Tat stand fest. Der Täter
musste von dem Kommen des Käsehändlers überrascht worden sein, hatte dann aber
schnell und gezielt gehandelt. Die A-Saite eines Cellos hatte sich als
improvisierte Garrotte tief in den Hals von Jean-Noël Baudouin
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