Grün. Le vert de la Provence
machte sich
in ihr breit, das zunehmend in Angst überging. Da hatte jemand brutal einen
völlig unschuldigen Käsehändler ermordet, dessen einziger Fehler es
offensichtlich gewesen war, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Einem
Ort, an dem auch Anselm zu der Zeit hätte sein können. Einem Ort, der
unmittelbar mit dem Menschen Pauline zusammenhing, und damit auch mit Ed, mit
ihr, mit dem, was Ed und Pauline verbunden haben mag, mit seiner Vergangenheit,
mit Paulines Vergangenheit, vielleicht sogar mit ihr, mit der Bastide, mit
etwas, von dem sie nicht wusste oder ahnte was es ist, das aber doch da war,
etwas, was der Mörder suchte, und dies vielleicht auch sehr bald hier.
Sie fühlte ihre Kehle trocken werden und das Zittern
ihrer Hände, den schneller werdenden Pulsschlag und das rasende Herzklopfen.
Die Türen zur Terrasse standen noch offen, die Alarmanlage war noch nicht
aktiviert und weder Sophie noch Alain waren in der Nähe. Die Videoüberwachung
sicherte das Tor und die Einfahrt. Aber das riesige Grundstück, das sich weit
in das Tal hineinzog, war abseits der Straße nur mit einem Wildzaun gesichert.
Und das Haus würde erst mit dem Einschalten der Alarmanlage auf den Monitoren
der Sicherheitsfirma erscheinen. Und selbst dann, was könnten die tun? Die
Polizei benachrichtigen? Einen Hubschrauber schicken? Das alles würde
mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine halbe Stunde länger, als
jemand benötigen würde, um in das Haus einzudringen und sie zu töten.
Die Jagdgewehre! Sie musste an ihr Gewehr gelangen, eine
Waffe in der Hand halten, gewappnet sein. Ihre leichte Bockflinte und der
Drilling von Ed waren mitsamt der Munition im Waffenschrank eingeschlossen. Der
Schlüssel hing an dem Schlüsselbund, den Anselm und sie benutzt hatten, um
Schränke und den kleinen Safe in Eds Schlafzimmer zu öffnen. Er lag immer noch
in Eds Arbeitszimmer, in Griffweite des Waffenschranks. Aber um dort
hinzugelangen, musste sie den Salon durchqueren, von dem die geöffneten Türen
auf die Terrasse führten.
Es war ein fataler Fehler gewesen, Engler zu
verabschieden, ohne vorher das Haus zu sichern. Aber diese Erkenntnis half
jetzt nicht weiter. Langsam schob sie die Tür zum Salon auf, wartete mit
angehaltenem Atem und lauschte in die Stille des Raumes. War da ein Geräusch?
Ein leichtes Schleifen auf dem Steinbelag der Terrasse? „Oh Scheiße!“, fluchte
sie leise. Zur Haustür hinauszulaufen, um über den Kies das Tor zu erreichen,
wäre Wahnsinn. Eine freie Fläche ohne Deckung und ohne die Möglichkeit, eine
andere Richtung einzuschlagen. Und dann noch das Tor, das sie von Hand öffnen
müsste. Bis sie die Straße erreicht hätte, wäre der Täter schon bei ihr
angelangt.
Nein, sie musste ihre Vorteile suchen und nutzen. Sie war
fit, vermutlich viel durchtrainierter als der Täter. Sie war wendig,
geschmeidig und schnell, konnte ausdauernd rennen und kurze, schnelle Haken
schlagen, wie ein Kaninchen auf der Flucht. Und sie kannte das Haus, sie wusste
genau, wo jedes Möbelstück stand und wie sie einem Eindringling im Salon
entgehen konnte. Sie musste dann so schnell wie möglich zwischen die
Baumgruppen gelangen und weiter tief hinein in den Garten, weiter, bis zum Rand
des Felsen, wo es schrundige, von Garigue überwucherte Gräben gab, in die sie
einen Verfolger leiten könnte. Und es gab einen Felseinbruch, einen Aven ,
der unvermittelt mehrere Meter steil in die Tiefe führte. Dieses Grundstück war
ihr Terrain, dort wäre sie jedem Verfolger überlegen. Sie musste nur bis dahin
gelangen können. Barfuß, dann hätte sie mehr Halt auf dem Steinboden und könnte
schneller Richtungen wechseln, anhalten oder lossprinten.
Lautlos schlüpfte sie aus den Schuhen und nahm sie in die
Hand, lehnte sich einen kurzen Moment an die Türzarge, schloss die Augen, malte
sich im Geist aus, welche Richtung sie in welcher Angriffssituation einschlagen
würde, zählte bis drei und stieß dann die Tür auf. Den sich bewegenden Schatten
nahm sie wahr, noch bevor der dazugehörige Mensch von der Terrasse in den Salon
trat.
Warten auf einen Mörder
Der Regen hatte gründlich den Staub von der Provence
gespült. Anselm öffnete auf der Fahrt zurück zur Bastide die Fenster. Erstmals,
seit er hier war, empfing ihn ein frischer, sommerlicher Duft, der von den
Weinfeldern, Gärten und Plantagen ausströmte. Alles schien schärfer konturiert
zu sein. Um den Gipfel des solitären Berges herum spielten
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