Grün war die Hoffnung
mußten? Okay, es war kalt da oben, und wennschon? Hatte Roger Williams sich etwa um körperliche Annehmlichkeiten gekümmert, als er die Kolonie von Rhode Island gegründet hatte? Oder Kapitän John Smith, als er zu den Sümpfen von Virginia hinuntersegelte? Einer nach dem anderen legte ein Kleidungsstück, ein Amulett oder ein Totem ab und warf es ins Feuer, unter Loyalitätsbekundungen für das neue Ideal, für die grenzenlose Freiheit, für Alaska. Es war eine pubertäre Phantasie – die Phantasie der einsamen Insel, des eigenen Staates, wo man die Regeln selbst und nach Belieben bestimmen konnte –, aber zugleich war sie unwiderstehlich. Marco sah es in jedem Gesicht, den Reiz von Veränderung, von Timothy Learys Mutation , und er wurde selbst davon erfaßt.
Er saß mit Norm Knie an Knie vor den Resten der Glut, trank Kräutertee aus einem angeschlagenen Keramikbecher und versuchte, jede Einzelheit zu besprechen und jedes Hindernis vorauszusehen, als es am Osthimmel langsam hell wurde. Alle anderen waren schlafen gegangen, sogar Mendocino Bill, der fast eine schummrige Stunde lang von der Notwendigkeit – nein: der Pflicht – gefaselt hatte, einen Rechtsanwalt zu engagieren und sich zu wehren, aber Norm hatte gesagt, er habe genug davon, Anwälte anzuheuern, genug vom Steuerzahlen und genug von der ganzen Spießerwelt, ein für allemal. »Sieh doch nur«, sagte Norm und hob seinen Becher in Richtung Dämmerung, »da dreht Gott quasi den Dimmer auf, was?« Und dann kam er auf die Beine, klopfte sich den Hintern seines Overalls ab. »Zeit zum Knackengehen für heute. Uns bleiben hier vielleicht noch sechs Tage, wenn wir Glück haben. Logistik, Mann, ich rede hier von Logistik. Da gibt’s noch viel zu tun.«
Jetzt aber regnete es, ein stetiger vertikaler Sturmangriff von Wasser in seiner natürlichen Beschaffenheit, grau, unerwartet, unangekündigt, naß. Marco erwachte von seinem Geräusch und Geruch und stellte fest, daß das Dach leckte. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, es mit einem Schlauch zu testen – es hielt den Morgentau ab, und das reichte ja, denn wer hätte gedacht, daß es im Juni regnete? Die Langschindeln hatte er selbst gespalten, aber Dachpappe war nicht zu bekommen – Teer zum Einstreichen auch nicht –, und das Sperrholz, das er verwendet hatte, war so lange unbehandelt den Elementen überlassen worden, daß es überall Schimmelschäden hatte. Als er so in seinem feuchten Schlafsack lag, war er zuerst wütend auf sich, dann kam er sich albern vor, bis er sich irgendwann sagte, wie sinnlos es war, sich zu ärgern: schließlich war das hier nichts als ein Baumhaus, wie es jeder Zwölfjährige zum Spaß zusammenbasteln mochte. Er hatte hier nur herumgespielt. Er konnte es besser. Natürlich konnte er das.
Er atmete ein und wieder aus und sah zu, wie seine Atemluft einen eigenen kleinen meteorologischen Vorgang bildete, lauschte dem pausenlosen Tropfen des Regens.
Wenigstens Star war im Trockenen. Er versuchte sie sich vorzustellen, eingerollt auf einem der Sofas im großen Haus, wie sie Platten hörte, einen Plausch mit Merry und Lydia hielt und wer sonst noch aus dem Regen hereingekommen war, oder vielleicht war sie in der Küche, beim Zubereiten von Reis oder Pasta für vierzig Personen. Sie war eine gute Köchin, mit einem Händchen für Gewürze. Sie verstand sich auf indische Küche, die er liebte. Sie mußte ja im großen Haus sein, denn sie war nicht hier. Logisch. Hier war niemand außer einem verlassenen Langhaarigen in einem durchnäßten Schlafsack.
Sie hatte am Abend über Kopfschmerzen geklagt, und er hatte angenommen, daß sie zurück ins Baumhaus gegangen war, um sich hinzuhauen, doch als er in der steingrauen Suppe der Morgendämmerung die Leiter hinaufgeklettert war, fand er den Schlafsack leer vor. Also nahm er weiter an, daß sie die Nacht im großen Haus verbracht hatte, wie sie es manchmal tat, in dem Raum, den Merry und Maya mit ein paar verblichenen Navajo-Decken über einer Wäscheleine abgeteilt hatten. Marco war ein-, zweimal dort gewesen – es war schließlich eine offene Gesellschaft, und theoretisch gab es keine Privatsphäre –, aber es hatte ihn verlegen gemacht. Der Raum roch nach Frauen, schmeckte nach ihnen, nach ihren Parfüms und Lotionen, ihren Duftkerzen und Räucherstäbchen und den Sachen, die sie dicht am Körper trugen, und dort war es ordentlich, während im Rest des Hauses Chaos herrschte. Außerdem war es dunkel, nur von Kerzen erhellt,
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