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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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knarrten unter ihren Füßen, und sie war plötzlich verlegen. Sie hatte im Unterschlupf eines Mannes nichts zu suchen, den sie kaum kannte, seine Socken und ein vergilbtes T-Shirt hingen über einer Stuhllehne zum Trocknen, als erledigte er seine Wäsche Stück für Stück, mehrere abgekaute Tabakspfeifen lagen aufgereiht auf dem Aktenschrank, neben einem gerahmten Foto von Wetzel Setzler in jüngeren Jahren und einer Frau im Sommerkleid, die doppelt so breit war wie er, beide blinzelten in die Sonne, als wären sie soeben einer Höhle entstiegen. Sie sah ein Paar Stiefel in der Ecke, eine Dose mit Pfeifenreinigern, eine auseinandergenommene Angelrolle, deren Teile auf einer Zeitung ausgelegt waren. Dann bemerkte sie das Funkgerät, es stand mitten auf dem Schreibtisch, mit Kopfhörern und angeschlossenem Mikro, und das beeindruckte sie, ähnlich wie die Bärenfalle – das hier war eine andere Welt, ein anderes Leben, und sie würde Zeit zum Eingewöhnen brauchen. Natürlich würde sie das. Und ihre Mutter konnte warten, dachte sie, außerdem wäre es von einem richtigen Telefon in Fairbanks wahrscheinlich sowieso billiger – falls sie Richard Schrader auftreiben konnten und falls sein Wagen zu haben war –, deshalb ging sie rückwärts aus dem Büro heraus und schloß leise die Tür.
    Sie rief noch einmal: »Hallo? Irgend jemand hier?«, dann wanderte sie durch die Gänge des Ladens, verloren zwischen den verzinkten Eimern und Benzinkanistern, Senkkopfschrauben, Spitzhacken, Köderfliegen und in Zellophan verpackten, sechs Tage alten Broten. Eine Sekunde lang fühlte sie einen Stich. Sie wollte sehr wohl mit ihrer Mutter sprechen – es war lebenswichtig –, und zwar weniger, um sie zu beruhigen, als um sie wissen zu lassen, daß sie schaffen konnte, worin die Mutter versagt hatte, daß sie genau wußte, was sie tat, und es entwickelte sich alles prima, ach was, besser als prima. Sie war glücklich. Beschwingt. Und ihre Mutter sollte das wissen.
    Ihrer Mutter schien Sess durchaus gefallen zu haben, doch die Idee vom Leben in der Wildnis hatte sie von Anfang an argwöhnisch betrachtet. »All das hab ich zur Genüge erlebt, als ihr klein wart und euer Vater jeden Sommer auf Goldsuche gegangen ist«, sagte sie, und es war wie eine Litanei, die Pamela Wort für Wort hätte nachleiern können. »Na ja, für euch Mädchen mag das ja ganz lustig gewesen sein, aber für mich war es eher belastend: am offenen Feuer für vier Leute kochen, die halbe Nacht wach liegen und nach den Moskitos schlagen, sich fragen, ob er auch diesmal wieder zurückkommt, ob er sich nicht ein Bein gebrochen hat oder von einem Bären angegriffen worden oder beim Durchwaten eines Baches ertrunken ist – und das war am allerschlimmsten: sich vorzustellen, wie er da irgendwo herumtrieb wie ein vollgesogenes Stück Fleisch, Futter für die Raben und die Ameisen ...«
    Pamela war einKind damals, gerade mal acht, als sie zum erstenmal in die Wildnis zogen, und ihre Erinnerungen an diese Zeit waren glücklich. Sie wußte noch, wie sie zu dritt – sie und ihre Mutter und Pris – gemütlich in dem großen Steilwandzelt gelegen hatten, während der Regen die Zeltbahnen in eine wahre Latino-Rhythmusgruppe verwandelte und ihre Mutter die Karten für Binokel, Poker, Herzchen oder Whist austeilte, während der Duft nach Kaninchen in Ingwermarmelade oder nach Eichhörnchenschmortopf bis in die letzten Winkel drang. Es gab Haferkekse, fest und süß auf dem Campingofen gebacken, Schoko-Nuß-Kuchen, ja, sogar Torten. Sie las alles von Nancy Drew, den Schwestern Brontë und Conan Doyle. Sie gingen baden, angeln, Kanu fahren, und den ganzen Juni und den halben September unterrichtete die Mutter sie und Pris in Mathematik, Grammatik und Aufsatzschreiben über Andrew »Stonewall« Jackson und Thomas Paine. Es war eine Art Traum. Und wie in einem Traum überkamen sie die Erinnerungen in Bruchstücken aus Farben und Gefühlen, ein Augenblick glitt in den nächsten in einer Montage aus jenen sechs Sommern, bis ihr Vater eines Tages aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt war.
    Sie wußte nicht genau, wie lange sie den Laden durchwandert und einen Gegenstand nach dem anderen in die Hand genommen hatte, als hätte sie Dinge wie Türscharniere oder Leistenstifte noch nie im Leben gesehen, als ein leises, beinahe entschuldigendes Hupen draußen vor dem Geschäft sie zur Ordnung rief. Durch das Fenster sah sie einen Wagen – weiß mit blauen Streifen, eine Art

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