Grüne Magie
er die Einschätzung des Wirts in Hinblick auf den Charakter Lodermulchs, und er sah davon ab, ihm seine Bitte vorzutragen. »Ich glaube, ich begnüge mich mit dem Platz im Flur. Jetzt zu meinem Abendessen: Mir steht der Sinn nach einem prächtigen Stück Geflügel, gut gebraten und garniert, und ich möchte all die Beilagen probieren, die deine Küche anzubieten hat.«
»Meiner Küche sind fast alle Vorräte ausgegangen«, sagte der Wirt. »Ich kann dir nur Linsen auftragen, wie auch den Pilgern. Das Stück Geflügel, von dem du gerade sprachst, ist bereits vergeben: Lodermulch hat es sich für seine Mahlzeit bestellt.«
Verärgert zuckte Cugel mit den Schultern. »Nun gut. Ich wasche mir rasch den Staub aus dem Gesicht, und anschließend genehmige ich mir einen Becher Wein.«
»Hinter dem Haus findest du frisches Wasser und auch einen Trog, der gelegentlich für solche Zwecke verwendet wird. Gegen zusätzliche Bezahlung stelle ich meinen Gästen Salben,wohlriechendes Öl und saubere Kleidung zur Verfügung.«
»Das Wasser genügt mir.« Cugel begab sich auf den Hinterhof und trat an das Becken heran. Nachdem er sich gewaschen hatte, sah er sich um. In einiger Entfernung bemerkte er einen recht massiv wirkenden Schuppen, der aus dicken Bohlen errichtet worden war. Er kehrte in Richtung der Schenke zurück, blieb jedoch nach einigen Schritten stehen und betrachtete den Schuppen erneut. Dann trat er auf ihn zu, öffnete die Tür und sah ins Innere. Sehr nachdenklich geworden, machte er sich auf den Rückweg. Im Gemeinschaftsraum servierte ihm der Wirt einen Becher Glühwein, und damit ließ sich Cugel ein wenig abseits der anderen Gäste auf einer Bank nieder.
Jemand hatte Lodermulch gefragt, was er von den sogenannten Seiltanzenden Evangelisten hielt. Es handelte sich dabei um Leute, die es aus Glaubensgründen ablehnten, die Füße auf den Boden zu setzen, und deshalb balancierten sie dauernd über Seile. Mit scharf klingender Stimme führte Lodermulch die Gründe dafür auf, warum er jene besondere Doktrin für närrisch erachtete. »Sie meinen, die Erde sei neunundzwanzig Äonen alt, obgleich doch alle wissen, daß bisher nur dreiundzwanzig vergangen sind. Des weiteren behaupten sie, auf jeder Quadratelle des Bodens seien zwei Millionen und zweihundertfünfzigtausend Menschen gestorben und zu Staub zerfallen. Auf diese Weise sei überall auf der Erde eine dicke Schicht aus Verwesungsmasse entstanden, die man nicht betreten dürfe, wolle man kein Sakrileg begehen. Dieses Argument zeichnet sich durch eine nur oberflächliche Plausibilität aus: Wenn für den Staub einer vollkommen verwesten und ausgedörrten Leiche nur eine Quadratelle zur Verfügung steht, so müßte er eine Schicht bilden, die ein dreiunddreißigstel Zoll dick wäre. Angesichts der bereits erwähnten Gesamtzahl aller Toten ergäbe sich daraus folgendes: Die ganze Erde müßte in einen eine Meile dicken Mantel aus Leichenstaub gehüllt sein. Und das ist erwiesenermaßen nicht der Fall.«
Ein Mitglied der betreffenden Sekte – in Ermangelung der rituellen Seile trug der Mann sperrige Zeremonienschuhe – erhob empört Einspruch. »Du sprichst ohne jede Logik oder Vernunft! Wie kannst du nur so sicher sein?«
In offensichtlichem Verdruß hob Lodermulch die buschigen Augenbrauen. »Muß ich wirklich in die Einzelheiten gehen? Die Klippen an der Küste des Meeres, die eine Höhe von einer Meile erreichen – folgen sie etwa dem Verlauf der Wassergrenze? Überall herrscht Uneinheitlichkeit. Landzungen erstrecken sich in die Ozeane, und die Strände bestehen aus reinem weißen Sand. Nirgends lassen sich die hohen Massen aus grauem Tuff finden, die es nach den Lehren deiner Sekte geben müßte.«
»Das ist doch dumme Phrasendrescherei!« entfuhr es dem Seiltänzer.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Lodermulch und spannte die Muskeln. »Willst du mich verhöhnen?«
»Nein, ich verhöhne dich nicht, sondern weise deinen Dogmatismus mit aller Entschiedenheit zurück! Wir glauben, daß ein Teil des Staubes ins Meer geweht wurde, und ein anderer schwebt nach wie vor in der Luft. Eine nicht geringe Menge rieselte durch Ritzen und Spalten in unterirdische Höhlen, und noch mehr wurde von Bäumen, dem Gras und bestimmten. Insekten aufgenommen. Dadurch beträgt die Dicke des Ahnensediments auf der Erde nur rund eine halbe Meile, und wir ehren unsere Vorfahren und halten es für ein Sakrileg, das zu betreten, was von ihnen übrigblieb. Warum die
Weitere Kostenlose Bücher