Grüne Schnüre mit Apfelgeschmack (German Edition)
Treiben auf der Bühne.
Odette ist soeben am Waldsee angekommen, enttäuscht von Siegfrieds Verrat. Ich muss schon genau hinschauen, um Nina zwischen den vielen Schwänen zu erkennen. Wie schön und anmutig sie sich bewegt. Ihre Mutter platzt sicher vor Stolz.
Siegfried betritt die Szene und tanzt flehend um Odette herum, versucht ihr zu erklären, dass man ihn getäuscht hat. Gebannt tauche ich in die Welt auf der Bühne ein, froh hier zu sein und den hässlichen Streit zu vergessen. Als Rotbart besiegt und Odette und Siegfried in Liebe vereint sind, breche ich in begeisterten Applaus aus. Ich liebe Happyends und ich mag Schwanensee.
Die Tänzer verbeugen sich, Frau Zagrowa richtet ein paar Worte an die Zuschauer, bedankt sich bei den Tänzer und Tänzerinnen ihrer Ballettschule, allen voran, ihrer Hauptdarsteller. Nina winkt uns kurz zu und ich klatsche, bis meine Hände krebsrot leuchten.
Später stehe ich mit ihrer Mutter und Josh in der Halle und warte auf Nina, die sich hinter der Bühne umzieht. Ihr Vater scheint heute wieder mal keine Zeit für seine Ex-Kinder gehabt zu haben. Beinahe hätte auch ich sie sitzen lassen.
„Schön, dass du es noch geschafft hast. Hat sie nicht wundervoll getanzt?“ Ninas Mutter strahlt.
„Es war öde und die Musik voll ätzend“, mosert Josh.
Mehr kann man von einem Zwölfjährigen, der lieber vorm Computer sitzt, stundenlang Hip Hop Musik mixt und futtert statt Sport zu treiben, wohl nicht erwarten. Er gibt einen komischen Kontrast zu seiner Schwester ab. Die zierliche Nina trägt ihr rotblondes Kraushaar stets zu einem strammen Zopf oder Dutt gebändigt und ist grazil wie ein Gazelle, während ihr Bruder seine Mähne wild vom Kopf abstehen lässt und in schlecht sitzenden Buddy Jeans rumläuft.
Ninas Mutter streicht ihm liebevoll über den breiten Kinderrücken. „Es war toll von dir, dass du mitgegangen bist. Nina hat sich sehr darüber gefreut“, dann wendet sie sich an mich, „und es war ihr sehr wichtig, dass du dabei bist, auch wenn du nicht die ganze Vorstellung mitbekommen hast. Ida hat es wohl nicht mehr geschafft?“
Ich erröte über meine Unfähigkeit eine gute Freundin zu sein und schüttele schnell den Kopf.
Zum Glück stürmt Nina in diesem Moment auf uns zu, umarmt mich als erstes. „Oh Mann, das war super. Ich war fast fehlerfrei.“
Die Tatsache, dass ich fast die ganze Vorstellung verpasst habe, übergeht sie völlig.
„Gehen wir noch etwas essen? Es ist zwar schon fast Elf, aber eine Kleinigkeit in der Stehpizzeria um die Ecke spendier ich euch noch. Ich bringe dich auf jeden Fall nach Hause“, bietet Ninas Mutter mir an.
Ich willige ein, froh noch nicht nach Hause zu müssen. Josh scheint mit der Pizzeria geködert worden zu sein, denn er grinst breit und reibt sich das dicke Bäuchlein.
Nina winkt einigen Mädchen aus ihrer Ballettruppe zu. Ein paar kenne ich noch von früher.
Ein hübsches Mädchen mit ellenlangen braunen Haaren ruft, „wir sehen uns nach den Ferien.“
Dann wendet sich das Mädchen wieder ihrer Familie zu, die aus Mutter, Vater, Oma, Opa und - ich kneife die Augen zusammen um mich zu vergewissern, dass ich nicht spinne - aus einem Gespenst mit kastanienbraunen Locken besteht. Was macht er denn hier?
„Wer ist das?“, stammele ich entgeistert.
„Das Mädchen da hinten? Das ist Lilly Harrenberger. Sie tanzt in meiner Gruppe.“
„Und das daneben? Ihr Bruder?“
„Ja, das ist ihr Bruder. Kennst du ihn?“
„Nur flüchtig, so vom Sehen. Ich glaube, er fährt manchmal in meinem Bus mit.“
Ich bin entsetzt und unterdrücke den Wunsch, augenblicklich zu Frau Zagrowa zu rennen und sie anzuflehen, mich wieder aufzunehmen, damit ich die Kunst des Pirouetten drehen doch noch erlerne und ganz nebenbei die beste Freundin von Lilly Harrenberger werden kann.
„Können wir jetzt gehen? Ich habe Hunger“, quengelt Josh.
Frau Kaiser setzt sich in Bewegung. Die Harrenbergers stehen direkt am Ausgang, ebenfalls bereit zum Aufbruch, so dass wir an ihnen vorbei müssen. Vielleicht bemerkt er mich ja auch gar nicht.
Frau Kaiser nickt Lilly und ihren Eltern kurz zu. „Es war toll, nicht wahr?“
„Die Mädchen können stolz auf sich sein“, erwidert Tims Mutter mit funkelnden Augen.
Er ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, die gleichen braunen Augen, die Haarfarbe, die schönen Gesichtszüge. Tim steht halb mit dem Rücken zu uns gewandt, dreht sich aber just in diesem Moment um. Verdutzt fällt
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