Grüne Tomaten: Roman (German Edition)
selben Ort gelandet. Und er hatte Männer gesehen, die reiche Ärzte und Anwälte gewesen waren, sogar einen früheren Staatssenator aus Maryland.
Smokey fragte Jimmy, was solche Leute veranlasste, so tief zu sinken. »Bei vielen liegt’s wohl daran, dass sie irgendwie enttäuscht wurden«, antwortete Jimmy. »Normalerweise von einer Frau. Sie hatten eine und verloren sie, oder sie bekamen nie diejenige, die sie wollten. Also gerieten sie auf Irrwege. Natürlich spielte Old Man Whiskey eine große Rolle. Aber nachdem ich hier so viele Männer ein und aus gehen sah, würde ich sagen, die Enttäuschung ist der wesentlichste Grund für ihr Unglück.«
Vor sechs Monaten war Jimmy gestorben. Nun renovierten sie die Innenstadt von Birmingham, und das Fürsorgeheim sollte abgerissen werden. Bald musste Smokey ausziehen. Wohin er gehen sollte, wusste er noch nicht …
Er stieg die Treppe hinab und verließ das Haus. Es war ein kalter, klarer Tag, der Himmel leuchtend blau, und so entschloss er sich zu einem Spaziergang. Er kam an Gus’ Hot-Dog-Kiosk vorbei, dann folgte er der 16th Street, passierte den alten Bahnhof, wanderte unter dem Rainbow Viaduct hindurch, die Gleise entlang, und schließlich schlug er die Richtung nach Whistle Stop ein.
Nie war er mehr als ein Tomatendosen-Vagabund gewesen, ein Tramp, ein Ritter der Landstraße, ein Außenseiter. Ein Freigeist, der unzählige Male in Frachtwaggons durch die Nacht gefahren war und Sternschnuppen gesehen hatte. Die wirtschaftliche Lage der USA beurteilte er stets nach der Länge der Zigarettenstummel, die er auf den Gehsteigen fand. Von Alabama bis Oregon roch er frische Luft. Er hatte alles gesehen, alles getan, zu niemandem gehört – nur ein trunksüchtiger Landstreicher, einer von vielen. Aber er, Smokey Jim Phillips, ständig vom Pech verfolgt, hatte immerhin eine Frau geliebt und war ihr sein Leben lang treu geblieben.
Sicher, er hatte in so manchen schäbigen Hotels mit armseligen Frauen geschlafen, im Wald, auf Rangierbahnhöfen. Aber die konnte er nicht lieben. Für ihn hatte es immer nur eine einzige gegeben.
Vom ersten Augenblick an hatte er sie geliebt. Er sah sie da im Café stehen, im getupften Kleid aus Schweizer Musselin, und er hörte nie mehr auf, sie zu lieben.
Er liebte sie, wenn er sich hundeelend fühlte und in einer Gasse hinter irgendeiner Bar erbrach, wenn er halb tot in einer billigen Absteige lag, umgeben von Männern mit offenen Geschwüren, mit armen Seelen im alkoholischen Delirium, die schreiend gegen imaginäre Insekten und Ratten kämpften. Er liebte sie in jenen Nächten, wo ihn ein eisiger Winterregen überfiel, wo ihn nur seine dünne Kleidung und seine nassen, eisenharten Lederschuhe schützten. Oder als er im Veteranenhospital landete und eine Lunge verlor – als ihm der Hund ein halbes Bein abriss, oder an jenem Weihnachtsabend bei der Heilsarmee in San Francisco, wo ihm Fremde auf den Rücken klopften und ihm vertrocknetes Truthahnfleisch und Zigaretten schenkten.
Auch im Fürsorgeheim liebte er sie jede Nacht, wenn er auf seiner dünnen, abgenutzten Matratze lag, die aus einem stillgelegten Krankenhaus stammte, wenn er beobachtete, wie das grüne JESUS RETTET DICH-Neonschild aufleuchtete und erlosch, und den Stimmen der Betrunkenen im Erdgeschoss lauschte, dem Geschrei, dem Klirren der Flaschen. Und in all den schweren Zeiten brauchte er nur die Augen zu schließen, ins Café zu gehen, und da sah er, wie sie dastand und ihn anlächelte.
Szenen erschienen vor seinem geistigen Auge – Ruth, die Idgie hinter der Theke zulachte und Stump an sich drückte … Ruth, die ihr Haar aus der Stirn strich … Ruth, die ihn besorgt musterte, wenn er sich verletzt hatte … »Smokey, heute Nacht solltest du dir eine zweite Decke nehmen. Angeblich wird es frieren. Oh, ich wünschte, du würdest nicht ständig davonlaufen. Wir haben solche Angst um dich, wenn du weg bist …«
Nie hatte er sie angerührt, außer um ihr die Hand zu schütteln, sie nie umarmt oder geküsst. Aber er war ihr immer treu gewesen – ihr allein. Für sie hatte er gemordet. Sie gehörte zu den Frauen, für die man Morde beging. Und allein schon beim Gedanken, jemand könnte ihr etwas zuleide tun, war ihm übel geworden.
In seinem ganzen Leben hatte er nur ein einziges Mal etwas gestohlen – das Foto von Ruth, das bei der Eröffnung des Cafés entstanden war. Vor dem Eingang hielt sie ihr Baby im Arm, und mit der anderen Hand schützte sie ihre Augen vor
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