Gruenkohl und Curry
einige Tage vor ihrer Abreise verabschiedet, zum Flughafen begleitete sie ihre gesamte Schwiegerfamilie. Einige ihrer Schwestern ließen es sich nicht nehmen, zum Flughafen mitzufahren. Es wurde ein ewiger Aufenthalt, denn die Lufthansa-Maschine, die aus Bangkok kommen sollte, hatte Verspätung – am Ende einen vollen Tag. Aber keiner ärgerte sich darüber, schließlich zögerte sich so der Abschied, ein Abschied für Jahre, ein wenig hinaus. »Wir unterhielten uns über alles Mögliche, nur nicht darüber, dass ich jetzt für lange Zeit weggehe«, erinnert sich meine Mutter an die Stunden auf dem Flughafen. Wann würden sie sich wieder gegenüberstehen? Und wann würden die Verwandten das Kind sehen, das demnächst zur Welt kommen sollte? Diese Fragen traute sich niemand zu stellen – es hätte niemand eine Antwort gewusst. Und so verabschiedeten sich meine Mutter und ihre Verwandten,
»Khudahafiz, Khudahafiz«
, und versprachen einander, man werde sich,
Inschallah
, bald wiedersehen. Es war inzwischen der 23. September.
Mit einem Tag Verspätung also kam meine Mutter in Frankfurt an, um ein neues Leben zu beginnen: eine dreiundzwanzigjährige Frau, im achten Monat schwanger, mit einem großen Koffer und so gut wie keinen Deutschkenntnissen. Sie hatte keine Ahnung, auf was sie sich da einließ, aber die Willenskraft war stärker als jede Angst. »Heute wäre es wahrscheinlich umgekehrt«, sagt sie. War da überhaupt ein Keim von Angst, ein Moment der Unsicherheit?
Der Grenzbeamte begrüßte sie freundlich, warf einen Blick in ihren grünen pakistanischen Pass, drückte ein drei Monate gültiges Touristenvisum hinein, »wenn Sie länger bleiben wollen, gehen Sie bitte zu der örtlichen Ausländerbehörde«, das war’s. Herzlich willkommen in Deutschland! Dieses Land sollte allerdings nur Zwischenstation sein – es ging ja noch weiter westlich, vielleicht in ein paar Monaten schon oder in einem Jahr. England oder Amerika waren das eigentliche Ziel, dort lebten Verwandte.
Sie wankte frierend durch die Flughafenhalle. Der Anschlussflug nach Bremen war längst weg, sie musste sich um eine neue Verbindung kümmern, aber wie? Der Flughafen war so groß und die Reisenden, die sie ansprach, verstanden sie nicht.
Fünf Männer, die sie um Hilfe bat, benahmen sich etwas seltsam, aber das merkte sie zu spät. »Ich wollte wissen, zu welchem der vielen Schalter ich muss. Aber sie redeten irgendeinen Unsinn, den ich nicht verstand, ich weiß nicht, ob es Deutsch oder eine andere Sprache war. Heute bin ich mir sicher, dass sie betrunken waren.« Denn einer von ihnen griff nach ihrer Hand, gab ihr einen Handkuss und furzte dabei vernehmlich.
»Ich war geschockt. Ich dachte: Diese Menschen haben überhaupt keine Manieren. Für einen Moment hielt ich es sogar für möglich, dass diese Art von Handkuss in Deutschland üblich ist.«
Die Männer suchten lachend das Weite.
»Ich fand eine pakistanische Familie, endlich Leute, die mich verstanden. Aber sie hatten keine Zeit, mir zu helfen, weil sie ihren Anschlussflug nach Chicago kriegen mussten.«
Chicago war Musik in ihren Ohren. Ihr Lied hieß leider Bremen.
Eine Lufthansa-Angestellte erklärte ihr schließlich, dass an diesem Tag kein Flug mehr nach Bremen ging. Sie nannte ihr ein Hotel für gestrandete Flugreisende: »›Hotel Ariane‹ hieß es, ich kann mich noch genau erinnern. Dorthin wurde ich gebracht, zusammen mit anderen Passagieren, die ebenfalls ihre Anschlussflüge verpasst hatten.« Am nächsten Morgen sollte es weitergehen.
Die erste Nacht in Deutschland, im ›Hotel Ariane‹.
»Mein Koffer wurde mir ausgehändigt, ich konnte, Gott sei Dank, meinen Mantel anziehen. Als ich am nächsten Morgen ganz früh aus dem Fenster schaute, fuhr gerade ein Mann mit dem Fahrrad vorbei und winkte mir zu. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass die Menschen in Deutschland doch ganz freundlich sind.«
An diese Szene denke ich oft, seitdem meine Mutter sie das erste Mal geschildert hat: Ein Mann, der sich wahrscheinlich nichts dabei denkt, winkt einer Fremden zu. Keine aufdringliche Geste, einfach nur freundlich. Mir fällt dazu eine andere Szene ein: wie ein Baggerfahrer an einer Baustelle mich böse anguckt, Grimassen schneidet und mich anschließend brüllend wegjagt, ich war da vielleicht fünf oder sechs. Viele Jahre lang konnte ich Baggerfahrer nicht ausstehen. Mir wird die Bedeutung von ersten Eindrücken bewusst. Ich nehme mir vor, immer freundlich zu Unbekannten zu
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