Gruenkohl und Curry
esse sie allerdings nur ungern »wie Apfel«.
Mehmet lachte. »Jetzt bist du auch ein Türke.«
Ich überlegte mir, ihm im Gegenzug mal eine Chilischote anzubieten, ihn hineinbeißen zu lassen und ihm dann zu sagen: »Jetzt bist du auch ein Pakistaner.« Aber dann hatte ich doch nie eine Schote dabei.
Es war meine erste und einzige Verbindung zu einem Türken in Hollern. Von einem Tag auf den anderen war er verschwunden. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Am Morgen nach dem spontanen Einzug in ihre erste eigene Wohnung hängten meine Eltern eine Tüte mit einem Fläschchen Sirup an die gegenüberliegende Wohnungstür, außerdem eine Karte: »Herzliche Grüße von Familie Kazim. Wir sind die neuen Nachbarn.«
Ein paar Stunden später klopfte es an der Tür, davor stand die Nachbarin, die sich für das Geschenk bedanken und sich vorstellen wollte: Ottilie Truetsch, eine Frau Anfang vierzig. Bald schon sollte sie zu unserer Familie gehören – und wir zu ihrer. Auch sie war erst seit wenigen Monaten in Deutschland und vor Kurzem eingezogen. Sie kam aus Siebenbürgen in Rumänien, wohin ihre Vorfahren im zwölften Jahrhundert von der Rhein- und Moselgegend ausgewandert waren. Man nannte sie die »Siebenbürger Sachsen«.
Ottilies Bruder Alfred war im Zweiten Weltkrieg als junger Soldat nach Deutschland gekommen, Rumänien zählte in dieser Zeit noch zu den Verbündeten. Nach dem Krieg war das Land plötzlich kommunistisch – und Alfred durfte nicht wieder zurück. Fast zwanzig Jahre vergingen, bis er seine Eltern und seine Schwester beim ersten Besuch in Siebenbürgen seit Kriegsende wiedersah.
In den Sechzigerjahren stellte die Familie einen Antrag auf Ausreise nach Deutschland – von deutscher Seite aus waren sie als Deutschrumänen im Rahmen der Familienzusammenführung willkommen, doch die rumänische Regierung verweigerte ihnen viele Jahre lang den Wunsch.
Und dann ging alles doch ganz schnell: 1970, nach fast zehnjährigem Bemühen um eine Genehmigung, reiste Ottilie Truetsch mit ihrer Mutter, die ebenfalls Ottilie hieß, und ihrem Vater Michael nach Deutschland. Alfred lebte mit seiner Frau inzwischen in Stade und so zog Ottilie mit ihren Eltern in seine Nähe – nach Hollern-Twielenfleth.
Mit der Zeit wurde aus Ottilie Truetsch für uns Otti, aus ihren Eltern, die später im Erdgeschoss unseres Hauses lebten, Oma und Opa, und ich erzählte Jahre später meinen Freunden in der Schule stolz, dass Oma 1901 und Opa sogar 1896 geboren wurde. Opa ist neben Kazim Ali Khan der einzige mir persönlich bekannte Mensch, der im neunzehnten Jahrhundert geboren wurde.
Wir schlossen einander ins Herz.
Erst kürzlich sagte mir Otti zwischen einer ihrer vielen Reisen – denn sie reist für ihr Leben gern und hat fast alle Teile der Welt gesehen –, sie habe zwar keine eigenen Kinder, aber dafür ja uns. Umgekehrt hatten wir keine Verwandten in unserer Nähe, dafür Otti, Oma und Opa.
Wir gaben uns gegenseitig, was wir ohne einander nicht hatten.
In diesem Haus in der Hollernstraße kreuzten sich die Wege von zwei Familien, die in ihrer jeweiligen Heimat – die eine in Rumänien, die andere in Pakistan – nicht mehr glücklich gewesen waren und einen Neuanfang suchten. Kurze Zeit vorher hatten sie nicht nur nichts voneinander gewusst, sie hatten auch noch nie von Hollern-Twielenfleth gehört. Erstaunlich, wohin der Zufall einen führt.
»Für mich war es ein Segen, dass ihr da wart, denn mit deiner Mutter habe ich mich immer auf Englisch unterhalten und konnte so meine Sprachkenntnisse verbessern«, erzählte Otti. »Bis heute reden wir Englisch miteinander und wenn uns mal ein Wort nicht einfällt, nehmen wir eben das deutsche. Mit deinem Vater spreche ich aber erstaunlicherweise immer Deutsch.« Nach kurzem Überlegen sagte sie: »Als ich deinen Vater kennenlernte, konnte er sich schon auf Deutsch verständigen. Es gab also keine Notwendigkeit, auf Englisch auszuweichen. Seither haben wir es so beibehalten.«
Otti fand kurz nach ihrer Ankunft in Hollern Arbeit bei einem Stromerzeuger, sie fuhr täglich mit ihrem goldenen Opel Kadett, den sie »Bernie« nannte, in ihr Büro auf dem Gelände des Stader Kernkraftwerks, das damals gerade ans Netz gegangen war. In meiner kindlichen Wahrnehmung arbeitete sie direkt im Reaktor, sie war in meiner Vorstellung die Person, die die Schalter betätigte und so dafür sorgte, dass die Menschen Strom hatten.
Bis in meine Jugend hinein verband ich das Atomkraftwerk immer mit
Weitere Kostenlose Bücher