Gruenkohl und Curry
Otti und konnte nicht verstehen, warum Menschen dagegen demonstrierten – gegen Atomstrom zu sein, bedeutete für mich, gegen Otti zu sein. Als vor ein paar Jahren der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde und das Stader Kraftwerk als eines der ersten vom Netz ging, war Otti schon im Ruhestand.
Meine Mutter freute sich, als sie vor dem Nachbarhaus mit dem Reetdach einen Kinderwagen entdeckte. Ihr Sohn war also nicht das einzige Baby in der Nachbarschaft. Sie fragte den Vermieter Peter Cordes, einen großen, kräftigen, ein bisschen brummigen, aber freundlichen Mann, wer denn die Nachbarn da drüben seien.
In dem Haus wohnten Irmgard und Simon Kirschner mit ihren Töchtern Gisela und Gertrud. Gisela war bereits verheiratet und gemeinsam mit ihrem Mann Heiner Laurich freute sie sich auf ihr eigenes Haus, das gerade neben ihrem Elternhaus gebaut wurde. In diesem Haus habe ich meinem Gefühl nach meine halbe Kindheit verbracht.
Der Kinderwagen gehörte der einjährigen Marina, Giselas Tochter. Ein zweites Mädchen, Sabine, war noch keinen Monat alt und befand sich seit der Geburt im Krankenhaus, da es etwas zu früh zur Welt gekommen war.
Auch Kirschners und Laurichs hatten schon von der pakistanischen Frau mit dem Kind gehört, deren Mann zur See fuhr. Eines Tages kam meine Mutter mit Gisela ins Gespräch. Wer kleine Kinder hat, überwindet kulturelle Grenzen leichter: Sie unterhielten sich über ihre Kinder und meine Mutter bat Gisela, ihr einige Dinge aus der Stadt mitzubringen. Wir hatten zu der Zeit noch kein Auto, meine Mutter besaß gar keinen Führerschein. Die Busfahrten von Hollern nach Stade und zurück, mich auf dem Arm oder im Kinderwagen, dazu auf dem Rückweg Taschen und Tüten voller Einkäufe, die Sprachschwierigkeiten, die fremde Gegend – das war ein bisschen viel für sie alleine.
Die Drogerie Reitemeyer in Stade, ein Geschäft, in dem der Chef noch persönlich hinterm Tresen stand, bot meiner Mutter schließlich an, ihr die verschiedenen Breisorten in Gläschen und die Windeln nach Hause zu liefern.
Fast zwanzig Jahre später, 1994. Ich gebe einen Negativfilm in diesem Geschäft zur Entwicklung ab, bin schon auf dem Weg zur Tür, als Herr Reitemeyer meinen Namen auf der Auftragstüte sieht. Quer durch den vollen Laden ruft er mir zu: »Herr Kazim, ich hab Sie gar nicht wiedererkannt! Ich weiß noch, welche Windeln Sie getragen haben!«
Wenn Heimat dort ist, wo der Kaufmann sich auch nach zwei Jahrzehnten erinnert, welche Windeln man getragen hat, dann wurden Hollern-Twielenfleth und Stade zu meiner Heimat.
Meine Mutter begann, sich wohlzufühlen, fand Freunde, lernte nach und nach alle Nachbarn kennen, darunter die Plattdeutsch sprechende Frau Budde und Frau Stuhlemer, beides ältere Damen aus dem Erdgeschoss. Frau Stuhlemer konnte meinen Namen nicht aussprechen und sagte stattdessen einfach »Hansi«, eine Schöpfung, die schon bald bis nach Pakistan, bis in die USA drang und die bis zum Ende meiner Schulzeit an mir haftete.
Meine Mutter merkte schnell, dass die Menschen in Hollern-Twielenfleth einander halfen, wenn Hilfe gefragt war – auch ihr, der fremden Frau aus dem fernen Pakistan. Sie war also nicht allein.
Ich wundere mich, wenn Leute sagen, die Altländer seien verschlossen, kühl und geizig noch dazu. Vielleicht brauchen manche ein bisschen Zeit, um sich gegenüber Fremden zu öffnen – aber dann sind sie die herzlichsten Menschen, die man sich vorstellen kann.
Die Tage vergingen jetzt rasch, meine Mutter hatte mit mir alle Hände voll zu tun, ich schrie nach wie vor viel. Nichts half, kein gutes Zureden, kein Füttern, kein Singen, kein Ins-Bett-Legen. Erst als meine Eltern ein Radio besaßen, entdeckten sie das Wundermittel: »Sobald ›Griechischer Wein‹ von Udo Jürgens lief, wurdest du ruhig«, sagt meine Mutter. Was für ein Glück: Das Lied wurde 1975 ein Hit und daher permanent gespielt. Vielleicht liegt es an dieser Prägung im Säuglingsalter, dass ich dieses Lied bis heute mag. Dass es um Ausländer geht, die von ihrer Heimat träumen, ist reiner Zufall und hat nichts zu bedeuten.
Sie sagten sich immer wieder: Irgendwann geht es zurück. Und das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück. Und bald denkt keiner mehr daran, wie es hier war.
Ich kann mir Liedtexte nur selten merken, aus meiner Kindheit kenne ich kaum noch welche. Der von ›Griechischer Wein‹ ist einer der wenigen, den ich seit Jahren vom Anfang bis zum Ende auswendig
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