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Gruenkohl und Curry

Gruenkohl und Curry

Titel: Gruenkohl und Curry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hasnain Kazim
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Gesetzesübertretung oder sonstiger Verfehlung schuldig machen, sind die Behörden vor Ort sicher bereit, die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern.«
    Darf man den Staat belügen?
    Ich kenne alle Argumente: Wo kämen wir hin, wenn jeder nach Deutschland wollte? Wir können doch nicht jeden ins Land lassen! Wenn wir keine Grenzen hätten, würden alle armen Menschen in die reichen Länder ziehen, in der Hoffnung, ihrer Armut zu entkommen!
    Meine Eltern wollten nichts anderes als ein Leben in Hollern-Twielenfleth. Sie wollten kein Geld, niemandem auf die Nerven gehen und freiwillig ein weniger komfortables Leben leben, als sie es früher gewohnt waren. Und definitiv war es nicht ihre Absicht, »die Belange der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen«, denn wer das tut, erhält laut Ausländergesetz sowieso keine Aufenthaltserlaubnis. Was auch immer »die Belange der Bundesrepublik Deutschland« sein mögen.
    Die älteste Schwester meines Vaters, Zahra, machte meiner Mutter einen Vorschlag: Warum ging sie nicht alleine nach Deutschland und ließ mich bei ihr? Sie selbst war kinderlos geblieben und lebte, nach Jahren in Saudi-Arabien, nun wieder in Pakistan im Haus ihrer Eltern und arbeitete als Anästhesistin für die pakistanische Armee: Schmerzbetäubung für Krieger. Sie könnte doch für mich sorgen und ich würde auf diese Weise in der Großfamilie aufwachsen. Ich könnte bis zur Einschulung in Pakistan bleiben, und sollte meine Mutter dann immer noch in Deutschland sein, würde sie mich rechtzeitig zum Schulbeginn nach Hollern bringen.
    Meine Mutter lehnte dankend ab.
    Der Vorschlag meiner Tante mag sich ungewöhnlich anhören, ist es aber nicht. In Pakistan und Indien wachsen Kinder meist in Großfamilien auf, und nicht selten übernimmt jemand anderes als die Eltern die Erziehung: mal ist es die älteste Tante oder der älteste Onkel, mal sind es die Großeltern. Manchmal erziehen auch die älteren Geschwister die jüngeren. Und kinderlos Gebliebene kümmern sich häufig um ihre Nichten und Neffen und behandeln sie, als wären sie der eigene Nachwuchs.
    Es war ein gut gemeinter Gedanke meiner Tante, eine Idee aus Liebe. Trotzdem läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke, was aus mir geworden wäre, wenn meine Eltern Ja gesagt hätten. Dann hätte ich meine ersten sechs Lebensjahre in Karatschi verbracht. Vielleicht wäre ich auch nie nach Deutschland gekommen, irgendeinen Grund hätte es immer gegeben, weiter in Pakistan zu bleiben. »Er hat doch so viele Freunde hier, warum soll er in Deutschland zur Schule, wo er niemanden kennt?« Oder: »Er fühlt sich so wohl in der Großfamilie, sollen wir ihn da wirklich rausreißen?« Oder: »Die Schulen in Pakistan sind viel besser als die in Deutschland. Hier lernt er von Anfang an Englisch.«
    Mein Urdu wäre sicherlich flüssiger als mein jetziges. Ich hätte ein engeres Verhältnis zu meinen Verwandten und eine sehr viel klarere Erinnerung an meine verstorbenen Großeltern. Und wie wäre dann mein Verhältnis zu meinen Eltern? Ich wäre einfach pakistanischer programmiert, ein Mensch wird nun mal in den ersten Lebensjahren geprägt, was Einfluss auf Tausende von Dingen gehabt hätte: auf meine Einstellung zur Religion, zu Familie und Partnerschaft, zur Arbeit, kurz: auf das Leben. Wahrscheinlich wäre ich gescheitert, wenn ich als Sechs- oder Siebenjähriger nach Deutschland gekommen wäre, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen oder verstehen zu können. Wie weit kommt man als Kind in der Schule, wenn man die Sprache nicht oder nur schlecht kann? Was nützt einem Talent, Intelligenz oder Lernwille, wenn man nicht sagen kann, was man sagen will? Und genügt eine später erworbene Sprachkenntnis mit Akzent, um akzeptiert zu werden? Ist man nicht selbst dann der ewige Ausländer?
    Ich bin mir sicher: Mit ihrem Nein hat meine Mutter eine der wichtigsten Entscheidungen für mein Leben getroffen. Vielleicht war es sogar die wichtigste überhaupt. Ein einfaches Nein.

    Während mein Vater nach wie vor auf den Weltmeeren unterwegs war, bereitete meine Mutter im November 1977 unseren erneuten Umzug nach Deutschland vor. Wieder packte sie nur zwei Koffer, diesmal mit genügend winterlicher Kleidung, sie wusste jetzt, was uns in Deutschland erwartete. All die Sachen aus dem Holzcontainer waren ohnehin an die Verwandtschaft verschenkt. Vor allem der Kühlschrank tat in der Hitze von Karatschi gute Dienste. Und der weiße Plattenspieler im

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