Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
verrückt oder fast verrückt geworden sind; ich bin in den Brauereikeller
gegenüber und habe gedacht: die Welt |302| geht unter, die Welt geht unter, und ich sage Ihnen offen, ich, die ich seit meinem zwölften Lebensjahr, seit 1914, nicht
mehr eine Kirche betreten und mich um den Pfaffenkram nicht mehr gekümmert habe, und nicht mal, als die Nazis scheinbar (Betonung nicht vom Verf.) gegen die Pfaffen waren, nicht mal da war ich dafür: so viel Dialektik und materialistische Geschichtsauslegung
hatte ich dann doch gefressen, obwohl die meisten Genossen mich für ne doofe, nette Henne gehalten haben – ich sage Ihnen,
ich habe gebetet: sonst nichts. Das kam wieder hoch: ›Gegrüßet seist du‹, und ›Vater unser‹ und sogar ›Unter deinem Schutz
und Schirm‹ – nichts als gebetet. Es war der schlimmste und schwerste von allen Angriffen, die wir je gehabt haben, und es
hat genau sechs Stunden und vierundvierzig Minuten gedauert, und manchmal bewegte sich die Decke vom Brauereikeller ein bißchen.
Fast wien Zelt im Wind, bebte und bewegte sich – und das alles auf die Stadt, die ja fast schon unbevölkert war, immer drauf
und drauf und immer wieder und immer wieder; wir waren nur zu sechst im Keller, zwei Frauen, ich und ne junge Frau mit nem
dreijährigen Jungen, die hat einfach nur so mit den Zähnen geklappert – da hab ich zum erstenmal gesehen, was das heißt, was
man so oft liest: mit den Zähnen geklappert; das ging mechanisch, da konnte die nichts für und wußte es auch nicht – die hat
sich schließlich die Lippen blutig gebissen, und wir haben ihr ein Stück Holz dazwischen gesteckt, irgendein kleines glattgehobeltes
Brettchen – wahrscheinlich von einer Faßdaube –, was da rumlag; ich dachte, sie wird verrückt, und du wirst verrückt – es
war gar nicht so laut, nur das Beben, und die Decke manchmal wien Gummiball, wenn er kaputt ist und sie drücken ihn rein oder
raus; der kleine Junge hat geschlafen: der ist einfach müde geworden, hat geschlafen und im Traum gelächelt. Dann waren noch
drei Männer da, ein alter Lagerarbeiter, in SA-Uniform – |303| und das am Zweiten! –, nun, der hat einfach die Hosen vollgeschissen, einfach voll, und gebibbert, als hätte er Schüttelfrost
– und vollgepinkelt hat er sich und ist dann rausgelaufen, einfach nach draußen, hat geschrien – und raus; von dem haben sie
keinen Hosenknopf mehr gefunden, sage ich Ihnen. Dann waren da noch zwei jüngere Kerle, in Zivil, Deutsche, ich denke, Deserteure,
die sich draußen in den Trümmern rumgetrieben haben, dann aber Schiß bekamen bei diesem Angriff; die waren erst ganz still
und blaß, und plötzlich, als der Alte rausgelaufen war, da wurden sie – nun, ich bin jetzt achtundsiebzig, und es hört sich
bestimmt scheußlich an, wenn ichs Ihnen so erzähle, wies wirklich war, ich war damals dreiundvierzig, und die junge Frau –
ich habe sie nie mehr, nie mehr gesehen, alle vier nicht, nicht die jungen Kerle, nicht das Kind, keinen –, die junge Frau
war vielleicht Ende Zwanzig –, nun, also diese jungen Kerle, höchstens zwei-, dreiundzwanzig, wurden plötzlich – wie soll
ich es nennen: geil oder zudringlich, nein, das stimmt alles nicht, und ich hatte doch, seitdem sie meinen Mann im KZ zu Tode
gefoltert hatten, seit drei Jahren keinen Mann mehr angesehen – nun, die beiden, sie fielen nicht über uns her, das kann man
nicht sagen, und wir haben uns auch nicht gesträubt, sie haben uns nicht vergewaltigt – jedenfalls: der eine kam zu mir, packte
an meine Brust und zog mir die Hose runter, der andere zu der jungen Frau, nahm ihr das Holz aus dem Mund und küßte sie, und
wir haben es eben da miteinander getrieben, wie Sies nennen wollen, zwischen uns das schlafende Jüngelchen, und es hört sich
wohl schrecklich für Sie an, aber Sie können sich das nicht vorstellen, wenn sechseinhalb Stunden lang die Flugzeuge kommen
und Bomben werfen, Luftminen und an die sechstausend Sprengbomben – wir haben uns einfach zusammengetan, wir vier, mit dem
Jüngelchen zwischen uns, und ich spür noch, wie der junge Kerl, der mich auserkoren |304| hatte, den Mund voller Staub hat, als er mich küßte, und ich spür den Staub in meinem Mund – das war wohl alles von der schwankenden
Decke heruntergerieselt –, und ich spüre noch, wie ich mich freue, mich beruhige, wie ich weiter bete, und sehe noch, wie
die junge Frau plötzlich ganz ruhig wird, dem
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