Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
die er durch seine Satelliten oder Briefkästen bekommen hatte; die sind gruppenweise los, Treffpunkt Heinsberg
da an der holländischen Grenze und wollten weiter nach Arnheim, gut. Aber wir, wir waren völlig verdattert durch diese Freiheit,
die uns da über Nacht geschenkt wurde. Fünf hatten den Mut, Gebrauch von der Freiheit zu machen, die suchten sich Klamotten
zusammen, zogen sich ein bißchen um, und ab gings über die Eisenbahnschienen, als Arbeitstrupp mit Schaufeln und Hacken getarnt,
keine schlechte Idee. Aber wir restlichen sieben hatten Angst, und der Boris wollte natürlich nicht von seiner Leni weg. Und
er konnte natürlich auch nicht allein hin ohne sein Kindermädchen Kolb, Boris ist gleich zum Telefon, hats geschafft, die
Gärtnerei zu erreichen, Alarm gegeben, und eine halbe Stunde später stand das Mädel mit seinem Fahrrad da unten an der Kreuzung
Näggerath und Wildersdorfer Straße und hat gewartet. Dann hat Boris das Stalag angerufen und hat vermeldet, daß wir ohne Bewachung
sind, und es dauerte keine halbe Stunde, da kam dieser einarmige, einbeinige und einäugige Major mit ein paar Soldaten in
seinem Auto an und ist erst mal stumm durch die Baracke geschritten; der hatte eine schön sitzende fabelhafte Prothese, mit
der er sogar radfahren konnte – dann ist er in die Wachstube gegangen, ist wieder rausgekommen und hat sich den Boris vorgeknöpft
und hat sich bei ihm bedankt, regelrecht mit Handschlag und ins Männerauge blicken und so. Richtig deutsch und nicht so lächerlich,
wies klingen mag. Verflucht, |353| das war vierzehn Tage, bevor die Amerikaner in der Stadt waren, und was tat er, der Major, er schickte uns ihnen entgegen!
An die Erftfront, wo sie ja schon waren. Zu Boris hat er gesagt: ›Koltowski, leider muß ich Ihr Gärtnereikommando damit als
beendet betrachten.‹ Aber ich habe gesehen, wie das Mädel mit dem Fahrer des Autos gesprochen hat, und von dem hat sie bestimmt
erfahren, wohin es jetzt ging, und man konnte deutlich genug sehen, die war schwanger wie eine Sonnenblume, wenn die Kerne
fast abspringen, und ich habe mir das Meine gedacht. Wir also weg nach zwanzig Minuten, mit einem Lastwagen, erst nach Großbüllesheim,
dann nach Großvernich, noch mal nachts weg nach Balkhausen, und als wir nach Frechen gebracht wurden, wieder nachts, da waren
nur noch der Boris und ich da, die anderen hatten den Wink des Majors kapiert und sind nachts über die Rübenfelder zu den
Amerikanern rübergekrochen, und unser Prinz wurde ja von seiner Prinzessin in eine deutsche Uniform gesteckt, mit Mull verbunden
und mit Hühnerblut beschmiert und auf den Friedhof verbracht. Nun, und ich, ich habe was Wahnsinniges getan: ich bin in die
Stadt zurück, allein, nachts, Ende Februar, in die verhunzte, zerstörte Stadt, wo ich ein Jahr lang Trümmer geschaufelt und
Leichen freigelegt habe, wo ich beschimpft und verhöhnt worden bin und wo mir manchmal einer, der vorüberging, doch ne Kippe
oder ne ganze Zigarette und manchmal einen Apfel oder ein Stück Brot vor die Füße geworfen hat, wenn der Posten nicht hinsah
oder nicht hinsehen wollte – ich bin zurück in die Stadt und hab mich in einer zerstörten Villa verkrochen, im Keller, der
halb eingestürzt war, so daß die Decke schräg ein Dach für mich bildete, und in diesem geschützten Winkel hab ich gewartet.
Ich hatte mir Brot und Eier bei den Bauern geklaut und habe Regenwasser getrunken aus einer Pfütze in der Waschküche, tagsüber
habe ich Holz |354| gesammelt, Parkettboden, der brennt so gut, und ich habe in den zersplitterten Möbeln rumgesucht, bis ich endlich was zu rauchen
gefunden hatte: sechs dicke, edle Zigarren in einem regelrechten ledernen Kapitalisten-Zigarrenetui, auf dem aufgedruckt stand:
Luzern 1919. Das hab ich heute noch, ich kann es dir zeigen, und sechs edle, dicke Kapitalistenzigarren, das sind, wenn du
nicht allzu verschwenderisch bist, sechsunddreißig ganz passable Zigaretten, und wenn du dazu Zündhölzer hast, ist es ein
Vermögen, und nicht nur Zündhölzer, auch Zigarettenpapier, das war ein Dünndruckgebetbuch aus Großvernich, fünfhundert Seiten
dick und vorne der Name drin: Katharina Wermelskirchen, Erstkommunion 1878 – und natürlich habe ich, bevor ich mir die Zigarette
drehte, gelesen, was da auf der Seite geschrieben stand: ›Hier durchforsche dein Gewissen, worin du Gott mit Gedanken, Worten
und Werken beleidigt hast. Ich
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