Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
nie aufgefallen ist, daß dort hin und wieder
ein dicker Strauß blutroter Rosen liegt, den Leni und ihr Sohn Lev bei gelegentlichen Besuchen dort niederlegen; oder hätte
der Verf. bei den alten Bullhorsts vielleicht jene rote, vorgedruckte Karte gefunden, die Boris ausgefüllt hat; auf der er
mitteilte, daß er gesund in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten sei? Diese Fragen müssen offen bleiben. Es kann nicht
alles geklärt werden. Und der Verf. gesteht freimütig, daß er – wie Elsa von Brabant oder Lohengrin – vor dem neugierig ungläubigen
Blick eines niederrheinischen, fast schon niederländischen Küsters, nicht sehr weit von Nijmwegen entfernt, die Nerven verloren
hat.
Überraschenderweise geklärt werden konnte, wenn auch nicht gänzlich, nicht Haruspicas Tod, so doch aber ein Teil ihrer Vergangenheit,
und nicht etwa ihre eigenen Zukunftspläne, sondern das, was andere mit ihr in Zukunft planen. Die Reise nach Rom, zu der sich
der Verf. dann doch entschloß, hat sich ausnahmsweise gelohnt. Der Verf. verweist, was die Stadt Rom betrifft, auf die entsprechenden
Reiseprospekte und -führer, auf französische, englische, italienische, amerikanische und deutsche Filme, sowie auf die reichhaltige
deutsche Italienliteratur, der er nichts hinzuzufügen gedenkt; gestehen möchte er lediglich, daß er – sogar in Rom – Fritzens
Wünsche verstand; |396| daß er den Unterschied zwischen einem Jesuiten und einem Nonnenkloster studieren durfte; daß er von einer geradezu entzückenden
Nonne von höchstens einundvierzig Jahren empfangen wurde, die nicht etwa herablassend, sondern wirklich gütig und klug lächelte,
als sie über die Schwestern Columbanus, Prudentia, Cecilia und Sapientia so Schmeichelhaftes vom Verf. erfuhr. Sogar Leni
wurde erwähnt, und es erwies sich: sie war da in dem herrlich, auf einem Hügel im Nordwesten Roms liegenden Ordensgeneralamt
bekannt. Man stelle sich vor: man weiß dort von Leni! Unter Pinien und Palmen, zwischen Marmor und Messing, in einem kühlen
Raum von beachtlicher Eleganz, auf schwarzen Morris-Ledersesseln, einen nicht zu verachtenden Tee auf dem Tisch, die qualmende
Zigarette auf der Kante der Untertasse nicht etwa geflissentlich, nicht etwa gütig, sondern wirklich übersehend, wußte eine nun tatsächlich reizende Nonne, die über Fontane promoviert hatte, kurz davor stand, sich mit einer
Arbeit über Gottfried Benn (!!), wenn auch nur an einer Ordenshochschule zu habilitieren, eine höchst gebildete Germanistin
in schlichtem Habit (das ihr fabelhaft stand), der sogar Heißenbüttel ein geläufiger Begriff war – sie wußte von Leni!
Man muß sich das vorstellen: Rom! Pinienschatten. Zikaden, Ventilatoren, Tee, Makronengebäck, Zigaretten, etwa sechs Uhr am
Abend, eine leiblich wie geistig gleichermaßen verführerische Person, die bei der Erwähnung der »Marquise von O...« auch nicht
den Schimmer eines Schattens von Verlegenheit zeigte, die, als der Verf. sich die zweite Zigarette anzündete, nachdem er die
erste kurzerhand auf dem Unterteller (imitiertes, aber gut imitiertes Meißner) ausgedrückt hatte, plötzlich mit einem rauhen
Ton in der Stimme flüsterte: »Verflucht, geben Sie mir auch eine, dieser Virginiatabak – dem Geruch kann ich nicht widerstehen«
– und inhalierte in einer Weise, die |397| nur den Ausdruck »sündig« verdient, und flüsterte weiterhin, nun schon in rechter Verschwörerstimme: »Wenn Schwester Sophia
kommt, ist es Ihre.« Diese Person, hier, im Zentrum der Welt, tief im Herzen aller Katholizität, sie kannte Leni, sogar als
Pfeiffer, nicht nur als Gruyten, und sie, diese himmlische Person, kramte nun mit Gelehrtensachlichkeit in einem grünen Karton,
Flächengröße DIN A4, Höhe etwa zehn Zentimeter, und berichtete, die einzelnen Papiere und Papierpacken nur gelegentlich als
Gedächtnisstütze zu Rate ziehend, über »Schwester Rahel Maria Ginzburg, aus dem Baltikum; in der Nähe von Riga 1891 geboren,
Abitur 1908 in Königsberg; Studium in Berlin, Göttingen, Heidelberg. Promotion in Biologie 1914 ebendort. Im Weltkrieg als
pazifistische Sozialistin jüdischer Herkunft mehrmals inhaftiert. 1918 Promotionsarbeit über die Anfänge der Endokrinologie
bei Claude Bernard, eine Arbeit, die schwer zu placieren war, da sie medizinische, theologische, philosophische und moralische
Dimensionen hatte, letzten Endes doch von einem Internisten als medizinische Arbeit
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