Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
einer so kleinbürgerlichen Motivation wie Diskretion erfüllt, gern ein Thema berührt hätte, das ihm sozusagen
auf der Zunge lag: Lotte |423| Hoyser, immerhin die Mutter dieser beiden gefestigt wirkenden jungen Herrn.
Er – Werner – wars denn auch, der ohne Scheu diese »bedauerliche und leider totale Entfremdung« ansprach; man solle sich nichts
vormachen, meinte er, solle einen Tatbestand sachlich analysieren, eine, wenn auch schmerzliche, psychische Operation vornehmen,
und da er wisse, daß Kontakt zwischen dem Verf. und seiner Mutter bestehe, möglicherweise sogar Sympathie, während die Sympathie
zwischen ihm, seinem Bruder, Großvater und dem Verf. durch einen »bedauerlichen, an sich aber doch wohl nebensächlichen Vorgang«
nicht mehr »balanciert« sei. Er lege Wert darauf festzustellen, daß er schlechthin außerstande sei zu begreifen, daß jemand
eine abgetragene Tweedjacke aus einem Textilhaus dritter Klasse, die ohne weiteres als »Zwölfender« zu erkennen sei, einer
nagelneuen Jacke aus einem führenden Textilhaus vorziehe, doch sei er zur Toleranz erzogen, auch bereit, jene walten zu lassen,
und sei es nur gemäß dem rheinischen Wahlspruch »Jeck loß Jeck elans«; auch sei er außerstande, die deutlich erkennbare Antipathie
gegen ein so beliebtes, so weit verbreitetes Auto wie den VW zu begreifen, er selbst habe für seine Frau als Zweitwagen einen
VW angeschafft, und wenn sein nunmehr zwölfjähriger Sohn Otto in etwa sechs, sieben Jahren die Reifeprüfung ablege und sein
Studium oder seinen Wehrdienst beginne, würde er einen VW als Drittwagen anschaffen. Nun, das nebenbei, und nun zu seiner
Mutter. Sie habe, das sei ihr Hauptfehler, nicht gerade das Bild des gefallenen Vaters verfälscht, doch habe sie den geschichtlichen
Hintergrund, auf dem jener gefallen sei, auf eine vulgäre Weise bagatellisiert, indem sie das alles als Stöz hingestellt habe.
»Selbst so clevere Knaben, wie wir zweifellos waren, verlangten eines Tages nach einem Vaterbild.« Das sei ihnen nicht verweigert
worden, ihr Vater sei ihnen als guter, |424| sensibler, wenn auch partiell-, jedenfalls beruflich-gescheiterter Mann geschildert worden, es habe auch nie ein Zweifel an
der Liebe seiner Mutter zu seinem Vater Wilhelm auftreten können, doch sei das Vaterbild durch das permanent und in allen
geschichtlichen Zusammenhängen angewandte Wort Stöz systematisch, wenn auch vielleicht nicht planmäßig zerstört worden; schlimmer
noch sei die Tatsache gewesen, daß sie Liebhaber gehabt habe. Gruyten, das sei ja noch gegangen, obwohl die Illegitimität
des Verhältnisses ihnen Spott und Ärger eingetragen habe, aber dann habe sie »sogar« Russen im Bett gehabt, hin und wieder
auch einen »von dieser fürchterlichen Margret abgelegten Ami«; und drittens, ihr anti-religiöser und antikirchlicher Affekt,
was nicht dasselbe sei, wie er wohl wisse, habe fürchterliche Folgen gehabt; bei ihr seien eben beide Affekte »auf eine mörderische
Weise kongruent« gewesen; sie habe ihnen den langen und lästigen Schulweg in eine freie Schule zugemutet, sei immer mürrischer
und verbitterter geworden, nachdem »Opa Gruyten« verunglückt sei, und es habe eben das Gegengewicht gefehlt; dieses – das
Gegengewicht –, das müsse er zugeben und rechne er ihr bis heute hoch an, habe er bei Tante Leni gefunden, die immer freundlich,
liebenswürdig, großzügig gewesen sei, Lieder gesungen, Märchen erzählt habe, und das Bild ihres verstorbenen – nun ja, man
könnte vielleicht doch sagen – Mannes, wenns auch ein Soldat der Roten Armee gewesen sei, dieses Bild sei eben nie angetastet
worden, und Leni habe sich geweigert, an den unzähligen Stuß- oder Stöz-Schicksalsinterpretationen teilzunehmen; jahrelang,
ja buchstäblich jahrelang habe sie mit ihnen und Lev abends am Rhein gesessen, »mit ihren von Rosendornen ziemlich zerstochenen
Händen«; und Lev sei eben getauft gewesen, Kurt nicht, er sei erst mit sieben Jahren bei den Nonnen getauft worden, als es
Großvater Otto »Gott sei |425| Dank« gelungen sei, sie aus »diesem Milieu« herauszuholen, Gott sei Dank, weil Tante Leni für kleine Kinder phantastisch,
für Heranwachsende aber Gift sei; sie singe zuviel, spreche zuwenig, wenn es auch wohltuend und von wohltuender Wirkung gewesen
sei, daß Tante Leni »nie und nimmer etwas mit Männern hatte, während es da doch bei unserer Mutter undurchsichtig und bei
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