Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
unglückselige Komponente des Festes: Leni wollte gar nicht hingehen. Die Tanzlust war ihr vergangen,
sie war »jetzt ein sehr ernstes, sehr stilles Mädchen, verstand sich gut mit ihrer Mutter; lernte mit der Französisch und
ein bißchen Englisch und war ja rein verliebt in ihr Klavier« (van Doorn). Außerdem kannte sie »das am Ort beschäftigte Betriebspersonal
zur Genüge, es war keiner darunter, der ihre Tanzlust hätte wieder erwecken können« (Lotte H.). Leni nahm nur pflichtgemäß
auf Bitten ihrer Eltern an diesem Betriebsfest teil.
Hier müssen unbedingt, obwohl er nur eine Chargenrolle spielt, leider ein paar Worte über den von Hoyser so niederschmetternd
charakterisierten Alois Pfeiffer und seine Sippe, seinen Hintergrund gesagt werden. A.s Vater, Wilhelm Pfeiffer, war »Schul-
und Kriegskamerad« des alten Gruyten gewesen, sie stammten aus demselben Dorf, hatten bis zu Gruytens Verheiratung eine lockere
Freundschaft gepflegt, die damit aufhörte, daß Wilhelm P. anfing, Gruyten »derart auf den Wecker zu fallen, daß ers nicht
mehr aushalten konnte« (H.). Die beiden hatten nämlich zusammen an einer Schlacht des Ersten Weltkriegs teilgenommen (an der
Lys, wie sich herausstellte), und nach der Heimkehr aus dem Krieg fing der damals zwanzigjährige Pfeiffer »einfach an« (H.,
auch alles folgende), »sein rechtes Bein nachzuziehen, als wärs gelähmt. Na gut, ich habe ja nichts dagegen, wenn einer ne
Rente schindet, aber der übertriebs, der sprach nämlich von nichts anderem mehr als von einem ›stecknadelkopfgroßen Granatsplitter‹,
der ihn an ›entscheidender Stelle‹ getroffen habe; und das war ein zäher Hund, der schleppte |130| sein Bein drei Jahre so lange von Arzt zu Arzt, von Versorgungsamt zu Versorgungsamt, daß sie ihm schließlich die Rente gaben
und außerdem ihm das Lehrerstudium ermöglichten. Gut. Gut. Nun will man ja nem Menschen nicht unrecht tun, und vielleicht
war er – was sage ich –, ist er wirklich gelähmt, aber gefunden hat den Splitter niemals einer – das braucht nicht an dem
Splitter zu liegen, spricht auch nicht gegen seine Existenz, gut – und er bekam ja auch seine Rente und wurde Lehrer und so
weiter, aber es war was Merkwürdiges: es machte Hubert wahnsinnig nervös, sobald der Pfeiffer mit seinem nachgeschleppten
Bein auftauchte; es wurde immer schlimmer, zeitweise sprach er sogar von Amputation, und tatsächlich war sein Bein wohl nachher
steif – aber gesehen, nachgewiesen, und wärs auf dem allerfeinsten Röntgenschirm, hat diesen ›stecknadelkopfgroßen Splitter‹
niemals jemand, nie. Und weil ihn nie einer gesehen hatte, hat Hubert eines Tages zu dem Pfeiffer gesagt: ›Wie kannst du eigentlich
wissen, daß der Splitter stecknadelkopfgroß ist, wenn ihn bisher keiner gesehen hat?‹ Ich muß schon sagen, das war ein verblüffendes
Argument – und der Pfeiffer war auch seitdem endgültig beleidigt. Dann hat er aber eine Art Stecknadelkopf-Weltanschauung
draus gemacht, und immer und immer und immer wieder bekamen die Kinder in der Schule draußen in Lyssemich das von dem Splitter
zu hören und von der ›Lys‹, und das dauerte zehn, es dauerte zwanzig Jahre, und Hubert hat wieder was sehr Zutreffendes gesagt
– wir bekamen doch dauernd aus dem Dorf, wo wir alle herstammen und viele Verwandte haben, von ihm erzählt –, Hubert hat gesagt:
›Selbst wenn er nen Splitter drin hat: es ist das verlogenste Bein, das ich kenne – und das schleift er nun da rum; dabei
kann von Schlacht gar keine Rede sein, ich war doch dabei – wir waren nämlich in der dritten oder vierten Welle und sind gar
nicht mehr in die Schlacht reingekommen |131| –, natürlich waren da Granaten und so, aber – nun, daß der Krieg Unsinn ist, das wissen wir doch, aber so schlimm, wie ders beschreibt, wars einfach nicht und hat für uns nur anderthalb Tage gedauert – davon kann man doch nicht
sein Leben bestreiten.‹ Nun (Seufzen von seiten des H.), nun tauchte der Sohn von Wilhelm, der Alois, also auf dem Ball auf.«
Ein paar Besuche in dem Dorf Lyssemich waren unumgänglich, um ein paar sachliche Informationen über Alois zu bekommen. Es
wurden zwei Gastwirte, die ungefähr in A.s Alter waren, befragt und deren Frauen, die sich seiner noch erinnerten; ein Besuch
im Pfarrhaus erwies sich als unergiebig: der Pfarrer kannte die Pfeiffers nur aus dem Pfarregister als »seit 1756 in Lyssemich
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