Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
diesem Augenblick
das einzig mögliche Ausdrucksmittel –, und es war deutlich, was er damit ausdrückte: am liebsten hätte er wohl dem Kremp ins
Gesicht gespuckt, aber das konnte er ja nicht.«
Grundtsch: »Am liebsten hätt ich laut gejubelt: das Mädchen hatte Mut. Verflucht, sie schlug gleich am Anfang die Entscheidungsschlacht
– wahrscheinlich ohne es zu wissen –, und doch muß sie es geahnt haben: sie kannte den Jungen ja gerade erst eineinhalb Stunden,
die er ja hilflos beim Kranzkörperkommando verbrachte – und niemand, selbst die Schnüffeltante Wanft, hätte ihr unterstellen
können, sie habe was mit ihm. Wenn Sie mich fragen und mir erlauben, es militärisch auszudrücken, Leni schaffte sich ein enormes
Schußfeld, bevors überhaupt was zum Schießen gab. Niemand konnte das, was sie tat, anders auslegen: als reine naive Menschlichkeit,
und die war zwar Untermenschen gegenüber verboten, und doch, |228| wissen Sie: das sah ja sogar ein Kerl wie der Kremp, daß Boris ein Mensch war : er hatte ja Nase und zwei Beine und sogar ne Brille auf der Nase, und er war sensibler als die ganze Mischpoke da zusammen.
Der Boris wurde einfach durch Lenis mutige Tat zum Menschen gemacht, zum Menschen erklärt – und damit hatte es sich, trotz
all der miesen Dinge, die da noch kommen sollten. Wie lange das gedauert hat: ach, es kam mir wie mindestens fünf Minuten
vor.«
Der Verf. fühlte sich verpflichtet, die mögliche Dauer des tödlichen Schweigens experimentell festzustellen. Da der Arbeitsraum
– jetzt in Grundtschs Besitz – noch vorhanden ist, ließen sich Abmessungen vornehmen: von Lenis zu Boris’ Tisch: vier Meter,
von Boris’ Tisch zum Wasserhahn: drei Meter, vom Wasserhahn zu Lenis Tisch (wo die Kaffeekanne stand): zwei Meter – noch einmal
vier Meter zu Boris’ Tisch: insgesamt dreizehn Meter, die Leni wahrscheinlich scheinbar ruhig, aber doch gewiß eilig zurückgelegt
hat. Leider ließ sich das Herunterschlagen der Tasse nur simulieren, da dem Verf. weder ein Amputierter noch dessen Prothese
zur Verfügung stand; nicht zu simulieren brauchte er das Ausspülen und Abtrocknen einer Tasse, das Eingießen des Kaffees:
er – der Verf. – machte das Experiment dreimal, um ganz sicherzugehen und um den angestrebten sachlichen Mittelwert zu erzielen.
Ergebnis: erstes Experiment: 45 Sekunden, zweites: 58 Sekunden, drittes: 42 Sekunden. Mittelwert: 48 Sekunden.
Da nun der Verf., der hier ausnahmsweise noch einmal unmittelbar eingreifen muß, diesen Vorgang als Lenis Geburt oder Wiedergeburt
bezeichnen möchte, als ein sozusagen zentrales Erlebnis, ihm über Leni nicht viel mehr Material vorliegt als solches, das
höchstens folgende |229| Zusammenfassung erlaubt: vielleicht ein wenig beschränkt, Mischung aus romantisch, sinnlich und materialistisch, ein bißchen
Kleistlektüre, Klavierspiel, eine dilettantische, wenn auch tiefgreifende oder -sitzende Kenntnis gewisser Sekretionsvorgänge;
nimmt man sie als (durch Erhards Schicksal) verhinderte Liebhaberin, als mißglückte Witwe, zu drei Vierteln Waisenkind (Mutter
tot, Vater im Gefängnis); mag man sie für halb- oder gar kraß ungebildet halten – so erklärt doch keine dieser fraglichen
Eigenschaften und nicht deren Kompositionen die Selbstverständlichkeit ihres Handelns in jenem Augenblick, den wir gemeinsam
die »Stunde der Tasse Kaffee« nennen wollen. Natürlich hat sie sich rührend und herzlich um Rahel gekümmert, bis zu jenem
Augenblick, wo diese im Klostergarten verscharrt wurde, aber Rahel war eine Vertraute, ihr nach Erhard und Heinrich die liebste
bisher auf ihrem Lebensweg – wieso der Kaffee für einen Menschen wie Boris Lvović, den sie ja selbst in eine krasse, lebensgefährliche
Situation brachte, denn in welche Lage kam ein sowjetischer Kriegsgefangener, der von einer naiven Deutschen Kaffee angeboten
bekam, wenn er diesen selbstverständlich und (scheinbar) ebenso naiv entgegennahm? Wußte sie überhaupt, was ein Kommunist war, wenn sie nach Margrets Meinung wahrscheinlich
nicht einmal wußte, was eine Jüdin war?
Die van Doorn, die von der »Stunde der Tasse Kaffee« nichts gewußt hat (Leni hielt das offenbar nicht für wichtig genug, es
ihr zu erzählen), ebensowenig wie Margret und Lotte davon wissen, bietet eine ziemlich simple Erklärung an: »Eins, wissen
Sie, war bei den Gruytens immer selbstverständlich gewesen: jeder bekam einen Kaffee
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