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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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angeboten. Ob Bettler, Schnorrer, Landstreicher,
     ob beliebter oder mißliebiger Geschäftsfreund. Das gabs einfach nicht, seinen Kaffee bekam einfach jeder. Sogar die Pfeiffers,
     und das will was heißen. Und – man muß gerecht |230| sein – nicht er wars, sondern sie, für die es in dieser Sache keinen Pardon gab. Mich hat das immer an die Selbstverständlichkeit
     erinnert, mit der früher jeder an der Klosterpforte seinen Schlag Suppe bekam, ohne daß man ihn nach seiner Religion fragte
     oder ihm fromme Sprüche abverlangte. Nein, sie hätte jedem Kaffee angeboten, ob nun Kommunist oder nicht ... und ich denke,
     sogar dem schlimmsten Nazi hätte sie einen gegeben. Das gabs ja nun mal einfach nicht – nun, sie war, ja, was sie sonst auch
     für viele Fehler gehabt haben mag, sie war ne großzügige Person, das war sie. Und herzlich und menschlich – eben nur, in einem
     gewissen Punkt, sie wissen, was ich meine, war sie nicht das, was er brauchte.«
     
    Nun muß hier nachdrücklich, mit aller Entschiedenheit der Eindruck vermieden werden, als sei da nun gegen Ende des Kriegsjahres
     43 – Anfang 44 in Pelzers Kranzbinderei etwas wie Russophilie oder Sowjeteuphorie vorhanden oder auch nur möglich gewesen.
     Lenis Selbstverständlichkeit kann historisch nur relativ, persönlich allerdings objektiv bewertet werden. Bedenkt man, daß
     andere (wenige) Deutsche für weitaus geringere Vergünstigungen, die sie Sowjetmenschen gewährten, Gefängnis, Galgen oder Konzentrationslager
     riskierten und bekamen, so muß man erkennen, daß es sich hier nicht etwa um eine bewußte Demonstration von Menschlichkeit
     handelte, sondern um eine objektiv wie subjektiv relative, die nur im Zusammenhang mit Lenis Existenz und dem historischen
     Ort gesehen werden kann. Wäre Leni weniger ahnungslos gewesen (ihre Ahnungslosigkeit hatte sie schon bei Rahel bewiesen),
     sie hätte – spätere Ereignisse und Handlungen lassen diesen Schluß zu – genauso gehandelt. Und hätte Leni ihre Selbstverständlichkeit
     nicht materialisiert – eben durch eine Tasse Kaffee – ausdrücken können, es wäre ein hilfloses, wahrscheinlich sogar |231| mißglücktes Sympathiegestammel daraus geworden, das ihr böser hätte ausgelegt werden können als die wie in einem heiligen
     Kelch dargebrachte Tasse Kaffee. Es ist anzunehmen, daß es ihr sinnliche Freude bereitete, die Tasse sorgfältig zu spülen,
     sie sorgfältig abzutrocknen: darin war nichts Demonstratives. Da bei ihr bisher das Nachdenken immer nachher gekommen ist
     (Alois, Erhard, Heinrich, Schwester Rahel, ihr Vater, ihre Mutter, der Krieg), viel später, kann man kaum bei ihr voraussetzen,
     daß ihr erst später zum Bewußtsein gekommen ist, was sie da getan hatte. Sie hatte einem Sowjetmenschen Kaffee nicht nur geschenkt, sondern regelrecht dargebracht, sie hatte diesem
     Sowjetmenschen eine Demütigung erspart, einem deutschen Beinamputierten eine bereitet. Leni wurde also nicht in den schätzungsweise
     50 Sekunden des tödlichen Schweigens geboren und wiedergeboren, ihre Geburt oder Wiedergeburt war kein abgeschlossener, sie
     war ein sich fortsetzender Vorgang. Kürzer gesagt: Leni wußte immer erst, was sie tat, wenn sie es tat. Sie mußte alles materialisieren.
     Es sollte nicht vergessen werden, daß sie in diesem Augenblick genau einundzwanzigeinhalbes Jahr alt war. Sie war – es muß
     wiederholt werden – eine extrem sekretions- und damit verdauungsabhängige Person, völlig ungeeignet, irgend etwas zu sublimieren.
     Es schlummerte in ihr eine Fähigkeit zur Direktheit, die von Alois weder erkannt noch geweckt worden war, die Erhard zu wecken
     keine Chance bekommen oder wahrgenommen hatte. Die schätzungsweise achtzehn bis fünfundzwanzig Minuten sinnlicher Erfüllung,
     die sie möglicherweise mit Alois erlebt hatte, hatten sie nicht vollmobilisiert, weil auch in Alois nicht die Fähigkeit vorhanden
     war, das Paradox festzustellen, daß Leni sinnlich war, weil sie eben nicht total sinnlich war.
    |232| Es gibt nur zwei Zeugen für das nächstentscheidende Erlebnis: die Handauflegung. Bogakov, der es schon beschrieben und die
     sekretorischen Folgen dargestellt hat, und Pelzer, der als der einzige Mitwisser bezeichnet werden muß.
    Pelzer: »Von da an gabs natürlich regelmäßig Kaffee für den Russen, von ihr, und ich kann es beschwören, als sie ihm am nächsten
     Tage seinen Kaffee brachte – aber da war er schon nicht mehr beim Kranzkörperkommando, schon

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