Guardian Angelinos (03) – Sekunden der Angst
ihren Beinen.
»Ein Doktor, was?«
Vivi fuhr zusammen und schnappte nach Luft, als sie Langs Stimme hörte, wütend, dass sie ihn nicht gehört hatte. Sie hatte Mühe, zu ihrer Fassung zurückzufinden. Wie in jener Nacht, als sie nach Hause gestolpert war und es niemandem erzählt hatte. Und die Schuldgefühle sie fast auffraßen.
Und später … nachdem …
»Alles klar?« Sein Ton veränderte sich, und er klang unversehens besorgt.
Er war ganz anders als Ken Taylor, der aufs College gegangen war und dann in irgendeiner Stadt im Mittleren Westen Medizin studiert hatte, ohne je wieder zurückzublicken. Doktor Kenneth Taylor, der offenbar kein Problem damit hatte, mit Schuld und Scham zu leben.
»Mir geht’s gut«, sagte sie rasch und zwang sich, unbeschwert zu klingen. »Bist du jetzt gründlich verdorben durch diese Familie?«
»Noch nicht annähernd genug«, sagte er mit einem betrübten Lächeln und streckte die Hand aus, um mit seinen Fingerknöcheln über ihre Wange zu streichen. Die Geste war irgendwie natürlich und schockierend zugleich.
Es fühlte sich richtig an, dass Lang sie berührte, aber nicht hier, unmittelbar an jenem Ort, wo ihr so vieles gestohlen worden war.
Grundgütiger, sie hatte sich auf einen Vergewaltiger eingelassen, der eine Menge Macht über sie ausgeübt hatte. Und bei dem Mann, der vor ihr stand, war sie bereit, sich alles zurückzuholen. »Fahren wir heute Abend zurück nach Nantucket?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich. Warum?«
»Ich will nicht von dir getrennt sein, Lang.«
Seine Augen flackerten. »Ich weiß, dass du Angst hast, also …«
»Nein, habe ich nicht.« Sie umschloss seine Hand, drückte sie an ihre Wange. »Ich hatte Angst, aber jetzt nicht mehr.« Sie wusste, dass sie über zwei verschiedene Arten von Angst redeten. »Ich will heute Nacht bei dir sein.«
Er kniff die Augen zusammen und fixierte sie mit glutheißer Intensität. »Ich werde dich nicht verlassen.«
»Ich meine …«
»Ich weiß, was du meinst.«
»Und du wirst es dir nicht …« Sie befeuchtete ihre Lippen und rang um ein Wort, das beschrieb, wie sie ihn letzte Nacht verloren hatte. Sie hatte ihn gehabt und dann – hatte sein eigener Dämon ihn gepackt. »Anders überlegen.«
»Ich habe es mir nicht anders überlegt«, sagte er. »Ich habe nur …« Er schluckte geräuschvoll und blickte an ihr vorbei, offenbar auf der Suche nach einem Themenwechsel. »Also warst du in den Nachbarsjungen verliebt, als du Cheerleaderin warst. Ich bin erstaunt.«
Schlechtes Thema. »Scheiße, muss Gabe unbedingt meine Vergangenheit ausplaudern? Und ich war nie verliebt. Nicht mal annähernd.«
»Aber du warst Cheerleaderin, und der Nachbarsjunge hat jetzt offensichtlich einen Doktortitel.«
»Soweit wir gehört haben. Ich habe seinen Werdegang wirklich nicht verfolgt.« Sondern ihm nur fast jeden Tag den Tod gewünscht. »Und, ja, ich war mal eine Zeit lang Cheerleaderin, bevor ich auf das Skateboard verfallen bin. Menschen verändern sich, Lang.«
Das raue, laute Röhren von Gabes altem GTO in der Einfahrt beendete ihr Gespräch.
»Wir fahren bei der fraglichen Adresse vorbei, die Chessie rausgefunden hat. Sonst bringt Gabe es noch fertig, allein hinzufahren. Er ist genauso schlimm wie du.«
»Nein, er ist noch viel schlimmer«, lachte sie. »Ich bleibe mit Chessie hier und hacke noch ein bisschen nach Caras SMS-Botschaften.«
»Versprochen?«
Sie lächelte. »Versprochen.«
Er beugte sich vor und küsste sie zart auf die Stirn. »Kann ich dir noch eine Frage zu dem Doktor stellen?«
Nein, keine Fragen mehr.
»Was?«
»Warum habt ihr euch getrennt?«
»Ach, bloß so, aus keinem bestimmten Grund.« Sie winkte ab, und, verdammt, ihre Hand zitterte ein bisschen bei dieser Lüge. »Nur – du weißt schon – Teenie-Skrupel.«
»War er der Grund für deine heimlichen Tränen?«
»Wer hätte gedacht, dass du so ein Süßholzraspler bist, Lang?«
»Wechsel nicht das Thema.«
»Ja«, sagte sie schlicht.
Pack dich, Petrus.
»Womit hat er dich verletzt?«
»Er hat mich unterschätzt.« Sie wandte sich ab, um wieder den Hügel hinaufzusteigen, doch er holte sie im nächsten Augenblick ein, schlang von hinten die Arme um sie und brachte seinen Mund sanft an ihr Ohr.
»Dann werde ich nicht den gleichen Fehler machen.«
»Das hoffe ich.« Er hatte keine Ahnung, wie ernst sie das meinte.
14
Der Monster-V8-Motor von Gabes GTO röhrte über die Straßen, die durch die Bostoner Vororte führten. Er
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