Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
den bereits gemachten Aussagen nichts hinzuzufügen.
Der Verteidiger hat keine Einwände.
Gelesen, bestätigt und unterzeichnet.
Zwei Tage nach seiner Festnahme war Abdou auch vom Ermittlungsrichter vernommen worden, hatte bei dieser Gelegenheit aber von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.
Eine weitere Vernehmung hatte es seither nicht gegeben.
Ich studierte noch einmal den Wortlaut des Haftbefehls, las die Begründung, mit der das Haftgericht – so, wie die Sache aussah, zu Recht – Abdous Haftbeschwerde ablehnte.
Ich las alle Akten wieder und wieder durch.
Die Aussagen der Strandbesucher, die oft gesehen hatten, wie Abdou sich mit dem Jungen unterhielt. Die Aussage des Senegalesen, der von der Autowäsche berichtete, und die des anderen Senegalesen, der Abdou am Tag nach dem Verschwinden des Jungen nicht am üblichen Strand gesehen haben wollte.
Das Protokoll des Lokaltermins und der Entdeckung der Leiche des kleinen Jungen. Das Protokoll von der bei Abdou durchgeführten Hausdurchsuchung.
Den Bericht des Pathologen, den ich so rasch wie möglich und unter Auslassung der Fotos überflog.
Die nutzlosen, traurigen Aussagen der Eltern und Großeltern des Kindes.
Am Sonntagabend brannten meine Augen, und ich beschloss, ein wenig hinauszugehen. Ein rauer Mistral fegte durch die Straßen, und es war eiskalt.
Jene gemeine Märzkälte, die den Frühling nicht einmal erahnen lässt.
Ursprünglich hatte ich mir nur ein wenig die Füße vertreten wollen, aber ich änderte meine Absicht, holte den Wagen aus der Garage und fuhr auf der alten Staatsstraße 16 Richtung Norden.
Bruce Springsteen hämmerte in den Lautsprechern und in meinem Kopf, während ich durch die verlassenen, vom Nordostwind leer gefegten Küstenorte fuhr.
Vor der Kathedrale von Trani hielt ich an, blickte aufs Meer hinaus und zündete mir eine Zigarette an. Die Mundharmonika kreischte in meinen Ohren und in meiner Seele.
Die fürchterlichen Worte waren für meine verzweifelte Einsamkeit geschrieben.
I remember us riding in my brother’s car
Her body tan and wet down at the reservoir
At night on them banks I’d lie awake
And pull her close just to feel each breath she’d take
Now those memories come back to haunt me
They haunt me like a curse
Im Morgengrauen erwachte ich zitternd vor Kälte, im Mund den Geschmack von Zigarettenrauch. Meine Hand umklammerte noch das Handy, das ich lange angestarrt hatte, in der Versuchung, Sara anzurufen, bevor mich der Schlaf übermannte.
6
D ie Strafprozessordnung sieht vor, dass zwischen dem Abschluss der Ermittlungen und dem Antrag auf Eröffnung eines Hauptverfahrens mindestens zwanzig Tage liegen müssen. Die Staatsanwälte lassen fast immer mehr Zeit verstreichen, viel mehr Zeit. Bisweilen Monate.
Cervellati reichte seinen Antrag am einundzwanzigsten Tag ein. Zwanghafte Pünktlichkeit gehörte zu seinem Stil. Man konnte ihm vieles vorwerfen, aber sicher nicht, dass er die Akten auf seinem Schreibtisch vermodern ließ.
Die Vorverhandlung wurde für Anfang Mai anberaumt. Die Richterin war eine gewisse Carenza, und wir hätten es zugegebenermaßen auch schlechter treffen können.
Die Carenza galt bei uns Anwälten als gute Richterin. Die Hypothese des Schnellverfahrens wurde dadurch noch interessanter. Abdou hatte tatsächlich gute Chancen, mit zwanzig Jahren davonzukommen.
Um das Jahr zweitausendzehn herum würde er, bei guter Führung, in den Genuss des halboffenen Vollzugs kommen.
Während ich, den Zettel mit dem Verhandlungstermin in der Hand, diese Überlegungen anstellte, beschlich mich plötzlich ein ungutes Gefühl. Ein scheinbar grundloses Unwohlsein, das mich den ganzen Tag über begleitete.
Dasselbe Unwohlsein empfand ich eine Woche später, als ich ins Gefängnis musste, um Abdou zu erklären, warum er sich am besten damit abfand, im Schnellverfahren verurteilt zu werden, zwanzig Jahre statt lebenslang zu bekommen und damit anfing, die Tage mit Strichen an seiner Zellenwand zu zählen.
Abdou war, oder wirkte, dünner als beim letzten Mal. Wie er sich den großen Bluterguss unterm rechten Auge geholt hatte, wollte er mir nicht erzählen. Während ich sprach, betrachtete er stumm die Maserung des Holztischs, ohne auch nur die kleinste Geste – verstehe, oder: was sagst du da? – zu machen. Kein Kopfnicken, nichts.
Als ich damit fertig war, ihm darzulegen, was in seinem Fall die beste Lösung sei, schwieg Abdou mehrere Minuten lang. Ich bot ihm eine
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