Guido Guerrieri 01 - Reise in die Nacht
passender vor. Wie sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen, als er sich von ihm zähmen lassen will?«
»›Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Und das ist traurig. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh, es wird wunderbar sein, wenn du mich einmal gezähmt hast! Das Gold der Weizenfelder wird mich an dich erinnern. Und ich werde das Rauschen des Windes im Getreide lieb gewinnen.‹«
Sie sah mich an, staunend wie ein kleines Kind. Sie war sehr schön. »Wieso kannst du das alles auswendig?«
»Keine Ahnung. Das war schon immer so. Wenn mir was gefällt, erinnere ich mich ewig daran, ich brauche es nur einmal zu lesen oder zu hören. Und den kleinen Prinzen hab ich zigmal gelesen. Kein Wunder also...«
»Was ist für dich die wichtigste Eigenschaft eines Menschen?«
»Humor – nicht zu verwechseln mit Ironie oder Sarkasmus, das ist etwas anderes. Leute mit Humor nehmen sich selbst nicht allzu ernst. Und wer sich selbst nicht ernst nimmt, kann weder schlecht, noch dumm oder vulgär sein. Wenn du es dir recht überlegst, steckt da fast alles drin. Kennst du Leute mit Humor?«
»Wenige. Dafür kenne ich sehr viele, vor allem Männer, die sich wahnsinnig ernst nehmen.«
Sie zögerte einen Augenblick, aber dann sprach sie weiter.
»Mein Freund ist einer davon.«
»Was macht dein Freund?«
»Er ist Ingenieur.«
»Ist er ein ernster Mensch?«
»Nein. Er ist sympathisch, er kann einen zum Lachen bringen. Ich meine: Er ist intelligent, reißt Witze und so, aber immer nur über die andern. Sich selbst nimmt er wahnsinnig ernst. Er hat absolut keinen Humor.«
Sie machte eine Pause, bevor sie weiter sprach.
»Ich fände es schön, wenn du Humor hättest.«
»Ich fände es auch schön. Und ehrlich gesagt würde ich, nach dem, was du gesagt hast, Vater und Mutter an die Kannibalen verkaufen, um welchen zu haben. Selbstverständlich auch das, ohne mich ernst zu nehmen.«
Sie lachte erneut, und dann redeten wir weiter, einfach so, stundenlang, in meinem Wagen, der uns vor der Kälte und vor dem Draußen schützte.
Als uns klar wurde, dass wir langsam zurückfahren mussten, war es nach vier, und als ich sie vor ihrer Haustür absetzte, begann es schon zu tagen.
»Wenn du morgen immer noch Lust hast, mit mir auszugehen, ruf mich an. Dann schenke ich dir ein Buch.«
Sara fasste mich unterm Kinn und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Dann stieg sie aus, ohne noch etwas zu sagen. Wenige Sekunden später war sie hinter einer polierten Holztür verschwunden.
Ich boxte mir zweimal leicht ins Gesicht, einmal mit der rechten und einmal mit der linken Faust. Dann ließ ich den Motor wieder an und fuhr mit voll aufgedrehtem Radio davon.
Zehn Jahre später saß ich allein in meinem verlassenen Büro und hing den Erinnerungen und ihrer herzzerreißenden Melodie nach.
Die Fähigkeit, Lieder oder Sätze aus Büchern oder Filmen nach einmaligem Hören oder Lesen auswendig zu können, hatte ich längst verloren.
Vergeudet, wie so vieles andere.
Deshalb konnte ich, als ich nach Hause ging, nur hoffen, dass unter den Büchern, die ich mitgenommen hatte, auch Der kleine Prinz war. Denn die Buchhandlungen waren um diese Uhrzeit alle geschlossen, und ich hatte es eilig, ich konnte nicht bis zum nächsten Morgen warten.
Es war da. Ich schlug rasch die letzten Seiten auf und suchte die Stelle, wo der kleine Prinz sich von seinem Freund, dem Flieger, verabschiedet und von der Schlange gebissen wird.
»›Du, du wirst Sterne haben, wie sie niemand hat. Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! Und wenn du dich getröstet hast (man tröstet sich immer), wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst Lust haben, mit mir zu lachen. Und du wirst manchmal dein Fenster öffnen, gerade so, zum Vergnügen... Und deine Freunde werden sehr erstaunt sein, wenn sie sehen, dass du den Himmel anblickst und lachst. Dann wirst du ihnen sagen: Ja, die Sterne, die bringen mich immer zum Lachen! Und sie werden dich für verrückt halten.‹«
12
I ch schlief exakt zwei Stunden.
Wenige Minuten vor drei schlüpfte ich ins Bett, Punkt fünf schlug ich die Augen auf und erhob mich seltsam ausgeruht.
Da ich an diesem Vormittag keine Termine hatte, beschloss ich, ein wenig spazieren zu gehen. Ich duschte, rasierte mich, zog eine bequeme alte Hose an, ein
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